| # taz.de -- Christian Ströbele zu seinem Abschied: „Schwarz-Grün hieße Anp… | |
| > Sein größtes Ziel, eine politische Revolution in Deutschland, hat der | |
| > Christian Ströbele nicht erreicht. Trotzdem verlässt er sein Amt nicht | |
| > ohne Hoffnung. | |
| Bild: Immerhin: Fahrrad wird er weiterhin fahren | |
| taz: Herr Ströbele, warum hören Sie auf? | |
| Weil ich die Vorstellung nicht attraktiv finde, noch fast fünf Jahre diesen | |
| Stress im Bundestag mitzumachen. In Sitzungswochen wie der jetzigen | |
| schlaucht mich das. Ich bin 15, 16 Stunden unterwegs, da komme ich an die | |
| Grenze meiner Leistungsfähigkeit. | |
| Geht es auch um Rücksichtnahme auf Ihre Gesundheit? | |
| Ja. Ich höre nicht wegen einer konkreten Krankheit auf, aber ich bin 77 | |
| Jahre, da fallen mir viele Weg oder Tätigkeiten schwerer. Das setzt mich | |
| sehr unter Druck. Wenn es um ein, zwei Jahre gegangen wäre, hätte ich | |
| vielleicht weitergemacht – aber wenn ich antrete, verspreche ich meinen | |
| Wählerinnen und Wählern ja vier Jahre. Und ich pflege Versprechen zu | |
| halten. | |
| Erleichtert es Sie, aufhören zu können? | |
| Auf der einen Seite ist es eine gewisse Erleichtertung. Jetzt habe ich mich | |
| festgelegt, jetzt ist es so. Auf der anderen Seite klingt auch Melancholie | |
| durch. Gestern Abend bin ich in der S-Bahn angesprochen worden: Sie machen | |
| doch auf jeden Fall weiter! Und da musste ich sagen, nein, ich habe das | |
| gerade anders entschieden… | |
| Was haben Sie erreicht in Ihrer Zeit im Bundestag? | |
| Wir konnten sehr viel verändern. Häufig werden Sachen, die ich schon früh | |
| gefordert habe, plötzlich ganz unspektakulär umgesetzt. Das betrifft zum | |
| Beispiel die Geschlechterpolitik, Homosexualität. Früher war ich | |
| Strafverteidiger in Prozessen, in denen Männer angeklagt wurden, weil sie | |
| mit einem anderen im Bett waren. In Untersuchungsausschüssen konnten wir | |
| Skandale aufklären. Einer meiner Lieblingspunkte, obwohl er vielleicht | |
| nicht ganz so wichtig ist, ist außerdem die Legalisierung von Cannabis. Ich | |
| habe das nie in meinem Leben genommen, aber ich finde das trotzdem eine | |
| Ungerechtigkeit: Es wird öffentlich dafür geworben, sich den Kopf | |
| vollzusaufen, aber man darf keine Haschischpfeife rauchen. Ich bin relativ | |
| sicher, dass Cannabis in den nächsten Jahren nicht nur in den USA, sondern | |
| auch in Deutschland legalisiert wird. | |
| Was waren besondere Momente für Sie? | |
| Der deutlichste, auch persönlich befriedigendste Erfolg war die Erringung | |
| des Direktmandats 2002 in Friedrichshain-Kreuzberg/ Prenzlauer Berg Ost und | |
| dessen Verteidigung. Keiner hat's geglaubt, aber ich hab es geschafft. Das | |
| hat mich schon sehr, sehr zufrieden gemacht, und mir gleichzeitig eine sehr | |
| unabhängige Stellung im Bundestag verschafft, bis heute. | |
| Gab es Misserfolge? | |
| Mein ganz großes Ziel, die politische Revolution in Deutschland, die ich in | |
| den 60er, 70er Jahren angestrebt habe, habe ich nicht erreicht. Was mich | |
| nach wie vor bedrückt, ist auch die weltweite Ungerechtigkeit. Unser | |
| vergleichsweiser Reichtum in Deutschland geht auf Kosten der Völker in | |
| Afrika und Lateinamerika. Ich war dort viel unterwegs, auch vom Bundestag | |
| aus, und habe mich immer wieder bestätigt gesehen: So darf das auf der Welt | |
| nicht weitergehen. Da habe ich natürlich versucht, was zu machen, zum | |
| Beispiel die Befreiungsbewegung unterstützt, aber so richtig hat sich da | |
| leider nichts geändert. | |
| Haben Sie an irgendeiner Stelle Ihre Ideale verraten? | |
| Nein. Natürlich war ich immer wieder in Versuchung, gerade in der Zeit der | |
| rot-grünen Koalition, da wollte ich manchmal kein Spielverderber sein und | |
| habe lange überlegt, wie ich abstimme. Aber unterm Strich gab es keine | |
| gravierenden Abweichungen von dem, was ich für richtig halte. Auch wenn es | |
| wie beim Nein zum Kriegsende in Afghanistan ganz schmerzhaft war, bin ich | |
| standhaft geblieben. | |
| Wo sehen Sie Ihr politisches Erbe? | |
| Ich hoffe, vermittelt zu haben, dass Ehrlichkeit in die Politik gehört. Ich | |
| vermisse bei Politikern, dass sie sich wie im Privatleben verhalten – dass | |
| man sich also wirklich darauf verlassen kann, was sie sagen. Die | |
| Bundesregierung beantwortet uns Abgeordneten Fragen und beantwortet dabei | |
| alles Mögliche, nur nicht die Frage. Manchmal ist die Antwort auch ganz | |
| bewusst falsch – und das hat keine Konsequenzen! Ich war in fünf | |
| Untersuchungsausschüssen, darunter BND, NSA und das Parlamentarische | |
| Kontrollgremium, das die Geheimdienste kontrolliert. Mit wurden Dinge ins | |
| Gesicht gesagt, die nicht stimmen. Das muss anders werden. | |
| Was bedeutet Ihr Abschied für die Grünen? | |
| Ich hoffe, dass es auch Jüngere geben wird, die immer wieder das anmahnen, | |
| wofür wird die Grünen gegründet haben – auch dafür, dass man sich nicht so | |
| anpasst. Ich nehme es keinem übel, wenn er Anzug trägt, ich tue das nicht. | |
| Aber man muss nicht alle Bequemlichkeiten aus Posten und Mandaten | |
| übernehmen. Und es geht auch um ganz formale Geschichten wie die Trennung | |
| von Amt und Mandat. Da wachsen hoffentlich Jüngere nach, die diese Relevanz | |
| auch sehen. | |
| Geht es bei Ihrer Sorge um Anpassung auch um weitere | |
| Regierungsbeteiligungen? | |
| Ich warne vor leichtfertigen Schritten in die falsche Richtung. Ich mache | |
| keinen Hehl daraus, dass mir Schwarz-Grün überhaupt nicht gefällt. Das | |
| würde Anpassungen in vielen Bereichen bedeuten, die weit über das | |
| hinausgehen, was wir mit den Sozialdemokraten veranstaltet haben. | |
| Wo stehen die Grünen heute? | |
| Ich glaube, dass sich die Grünen überlegen müssen, ob sie eine Partei sein | |
| wollen, die zeigt, dass sie, sofern sie an der Regierung ist, die | |
| Verhältnisse genauso gut verwalten können wie andere – oder ob sie eine | |
| Partei sind, die vielmehr verändern will. | |
| Was wäre denn mehr? | |
| Man muss die Zukunft im Auge haben, nicht nur in Deutschland und Europa. | |
| Wir sind inzwischen viel mehr als früher eine Weltgemeinschaft und haben | |
| direkte Verantwortung dafür, dass die Handelsbeziehungen so sind, dass die | |
| einen immer reicher und die anderen immer ärmer werden. Da muss sich | |
| grundsätzlich was ändern. Das schaffe ich in meinem Leben nicht mehr, die | |
| nächste Generation vielleicht auch nicht – aber das muss man weiter | |
| betreiben, und dann schafft es vielleicht die übernächste. | |
| Wie denn? | |
| Womit ich großgeworden bin und was mich heute noch fasziniert ist, alle | |
| angeblichen Wahrheiten und Autoritäten immer wieder zu hinterfragen. Nur so | |
| kann sich was ändern. Ich freue mich auch, wenn ich in der taz Berichte | |
| finde, die zeigen, dass sie eben nicht Mainstream ist, sondern | |
| Grundsätzliches in Frage stellt. Und das betrifft eben auch die Politik, | |
| die parlamentarische Demokratie: Ist die so richtig oder muss sie sich | |
| gravierend verändern? Jetzt habe ich ja noch fast ein Jahr im Bundestag. | |
| Aber danach will ich meine Memoiren schreiben. | |
| Ist dies also ein vollständiger Abschied aus der Politik? | |
| Nein, auf gar keinen Fall! Erstens arbeiten wir im | |
| NSA-Untersuchungsausschuss noch heftig, wir müssen noch Frau Merkel und | |
| Herrn Altmaier hören und dann unseren Bericht schreiben. Und dann muss man | |
| ja nicht im Bundestag sein, um politisch zu wirken. Ich werde weiter zu | |
| Demos gehen und mich auch sonst einmischen. Ich mache das solange wie ich | |
| krauchen kann. Noch fahre ich sogar jeden Tag Fahrrad, auch wenn das ein | |
| bisschen länger dauert. | |
| 14 Dec 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Patricia Hecht | |
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