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# taz.de -- Nationalismus in Indien: Ohne Hymne kein Kinovergnügen
> Kinobesucher_innen sollen der Nationalhymne stehend lauschen. Die
> Verweigerung hat mittlerweile zu zwölf Festnahmen geführt.
Bild: Für die Nationalhymne müssen alle stehen. Sonst droht eine dreijährige…
Kinofans in Indien müssen sich seit Ende November, vor Beginn eines jeden
Blockbusters aus den gemütlichen Kinosesseln erheben. Nach einer
Entscheidung des Obersten Indischen Gerichtshofes sind Kinobetreiber_innen
verpflichtet, vor jeder Filmvorführung die Nationalhymne zu spielen und die
indische Flagge zu zeigen. Für dieses patriotische Spektakel sollen sich
Theatergäste im kinoverliebten Bollywood-Land erheben und so der
Nationalhymne ihren gebührenden Respekt zollen.
Der oberste Richter gab bei der Rechtssprechung bekannt, dass durch das
Spielen der Hymne „das Gefühl eines jeden für einen engagierten
Patriotismus und Nationalismus“ gestärkt werden soll. Diese Absicht ist im
Hinblick auf den Autor der Hymne, den Nobelpreisträger Rabindranath Tagore,
ein Widerspruch. Tagore kritisierte den Nationalismus seiner Zeit stark und
sprach sich sein Leben lang für Diversität und freiheitliches Denken aus.
Die Entscheidung des Gerichts hat im südlichen Indien am letzten Wochenende
bereits zu 12 Festnahmen geführt. In einem Kinosaal in Chennai weigerte
sich eine Gruppe von sechs jungen Leuten aufzustehen und machte Selfies
während der Zeremonie. Das rief die bürgerliche Moralpolizei auf den Plan:
Andere Kinobesucher_innen forderten die Gruppe auf sich zu erheben und
riefen nach ihrer Verweigerung die Polizei. Laut Polizei verprügelten
außerdem Rechtsradikale acht Kinobesucher_innen in Chennai, die sich die
Hymne im Sitzen angehört hatten.
Auch während eines Filmfestival in Kerala waren Besucher_innen der
Aufforderung des Personals und der anwesenden Polizei nicht nachgekommen,
während der Hymne sitzen geblieben und schließlich auf der örtlichen
Polizeiwache gelandet. Der Veranstalter hatte im Vorfeld versucht, das
einwöchige Festival von der Aufstehpflicht zu befreien – ohne Erfolg. Auf
dem Festival hieß es bei 40 vorgeführten Filmen, vierzig Mal aufstehen und
vierzig mal der indischen Nationalhymne lauschen. Die Festgenommen wurden
in beiden Städten gegen eine Kaution freigelassen. Laut Gesetz kann
Verweiger_innen aber eine 3-jährige Haftstrafe drohen.
Mit der neuen Rechtssprechung will die Regierung Momente nationaler Einheit
konstruieren und seine Bevölkerung zu patriotischem Stolz verpflichten.
Bisher war es nur in wenigen indischen Bundesstaaten wie Maharashtra
üblich, vor Kinovorstellungen die Nationalhymne zu spielen. Die nun
getroffene Stärkung des Gesetzes steht im Kontext des Wahlsiegs der
hinduistisch-nationalistischen Regierungspartei BJP um Premierminister
Narendra Modi im Jahr 2014.
Die nationalistische Agenda ausgerechnet zwischen Bollywood und Popcorn
durchzuziehen, findet bei vielen Leuten keinen Anklang. Nicht nur die
Aufsteh-Verweigerer protestieren, auch im Netz macht man sich über den
nationalistischen Vorstoß lustig. Auf change.org startete der Blogger
Hashin Jithu eine [1][satirische Petition] nach der die Nationalhymne auch
vor und nach jedem Besuch der Pornoseite x-Videos.com gespielt werden soll.
Auf Twitter sammelten Nutzer_innen Orte, an denen die Nationalhymne
ebenfalls erklingen sollte: „Wenn das Geld am ATM ausgeht“ oder „vor jedem
Youtube-Video und wenn du es vorzeitig abbrichst kommt die Polizei und
konfisziert deinen Laptop“.
Bei aller Satire zeigen die Festnahmen des vergangen Wochenendes
allerdings, dass dieses Gesetz auch ernst machen kann und die Verweigerung
an der Zeremonie des nationalen Stolzes bis zur Freiheitsberaubung führt.
14 Dec 2016
## LINKS
[1] https://www.change.org/u/144082575
## AUTOREN
Katharina Lipowsky
## TAGS
Indien
Kino
Nationalismus
Patriotismus
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