| # taz.de -- Die Wahrheit: Ungeheuer in Stockholm | |
| > Die Skandalchronik: eine unvollständige Auflistung der umstrittensten | |
| > Literaturnobelpreisträger, die die Geschichte gesehen hat. | |
| Bild: Ungeheuer in Stockholm | |
| Am Samstagabend findet die Verleihung der Nobelpreise statt. Selten gab es | |
| um die Entscheidung der Jury einen solchen Wirbel wie in diesem Jahr. Denn | |
| mit Bob Dylan wurde erstmals kein Literat, sondern ein Musiker zum | |
| weltbesten Schriftsteller gekrönt – dabei lesen sich doch gerade Partituren | |
| furchtbar langweilig. | |
| Aber angesichts der Aufregung, die ob dieser Auszeichnung herrscht, wird | |
| leicht vergessen, dass sich die Schweden schon so manchen Paradiesvogel als | |
| Preisträger geleistet haben – wie ein Blick in die Historie der Geehrten | |
| zeigt. | |
| 1201: Das Komitee in Stockholm wählt den Minnesänger Reinmar aus und erntet | |
| damit den Unmut der im stillen Kämmerlein vor sich hin scribierenden | |
| Dichter. Die Literatur sei dem Untergang geweiht, der Nobelpreis keinen | |
| Pfifferling mehr wert, schäumt man. Nun sei wohl alles erlaubt! Enttäuscht | |
| sind vor allem Epiker Wolfram von Eschenbach und Papst Innozenz III., die | |
| von vielen Beobachtern schon länger „auf der Liste“ gesehen wurden. | |
| Kleine Genugtuung für die Kollegen: Reinmar kann den Zaster nicht | |
| persönlich entgegennehmen. Er stirbt auf der Fahrt nach Schweden durch die | |
| Klauen eines Ungeheuers mit sieben Köpfen (das Ungeheuer hatte sieben | |
| Köpfe, nicht Reinmar). | |
| ## Abschreiben ist keine schriftstellerische Leistung | |
| 1544: Der blühenden Literaturlandschaft zum Trotz wird Martin Luther für | |
| seine Übersetzung der Hl. Schrift geehrt. Die Feuilletons spotten, eine | |
| Übersetzung sei keine eigenständige schriftstellerische Leistung, sondern | |
| Abschreiben in einer anderen Sprache; schon bald ist von „Lutherplag“ die | |
| Rede. Der fortgesetzte Streit über die Rechtmäßigkeit dieser Verleihung | |
| mündet in den Dreißigjährigen Krieg, in dem die Schweden sich schließlich | |
| mit ihrer Sicht der Dinge durchsetzen können. Dennoch bleibt der Ruf der | |
| Auszeichnung auf Jahre hinaus beschädigt. | |
| 1603: Der im Ausland weithin unbekannte britische Dramatiker William | |
| Shakespeare bekommt einen Anruf aus Stockholm, in dem ihm mitgeteilt wird, | |
| sein Kollege Ben Jonson sei der Gewinner des diesjährigen | |
| Literaturnobelpreises. In Kontinentaleuropa reagiert man ungehalten und | |
| kündigt eine harte Brexekution an. Auch im Nachhinein gilt die Wahl als | |
| Fehler, rechnete sich doch zur selben Zeit mit Cervantes in Spanien ein | |
| Literat von Weltrang Chancen auf das Preisgeld aus. Verbittert resümiert | |
| dieser am Lebensende: „Gegen die Strohköpfe im Norden kommt keiner an, da | |
| machste nix. Ein Kampf gegen Windmühlen!“ | |
| 1804: Mit Goethe und Schiller erhält erstmals ein Autorenduo die | |
| Nobelmedaille. In einem Brief an Herzog Karl-August zeigt Goethe sich | |
| jedoch verärgert, „den Preis mit dem Freund teilen zu müssen, dem | |
| nervenlabilen Hypochonder, dieser menschgewordenen | |
| Schleimbeutelentzündung.“ Ein Zerwürfnis der Schriftsteller kann Schiller | |
| dank günstig stehender Gestirne gerade noch abwenden, indem er kurze Zeit | |
| später stirbt. | |
| 1896: Das Murren in den Literatursalons ist deutlich zu vernehmen, als | |
| Gewinner Winnetou I. bekanntgegeben wird. Zwar hatte man erwartet, dass | |
| Amerika „jetzt langsam dran“ sei, doch niemand war von einem indigenen | |
| Preisträger ausgegangen. Zeitungen warnen vor einer Spaltung der | |
| Gesellschaft durch solchen, dem linken Mainstream vorauseilenden Gehorsam. | |
| Der ohnehin schon sehr starke Nationalismus nimmt weiter Fahrt auf. Als | |
| Winnetou dann nicht einmal zur Verleihungszeremonie erscheint, ist der | |
| Eklat perfekt. Später stellt sich die ganze Sache als Hoax heraus, die Jury | |
| gibt an, sie habe „nur etwas testen“ wollen. In der | |
| literaturwissenschaftlichen Forschung wird die Existenz eines realen | |
| Winnetous überdies seit einigen Jahren angezweifelt. So recht mag keiner | |
| die Geschichte glauben – wenn da nur nicht diese Filme wären … | |
| ## Die Herangehensweise ist seltsam seelenlos | |
| 1914: Von der allgemeinen Kriegsbegeisterung euphorisiert, zeichnen die | |
| Schweden mit Rosa Luxemburg versehentlich eine Frau aus. Ein Fauxpas, der | |
| sich zukünftig noch ein halbes Dutzend Mal wiederholen sollte. Von | |
| Luxemburgs Werk nehmen die Verantwortlichen erst nach Absenden der | |
| Pressemitteilung Kenntnis. Peinlich berührt werden alle Feierlichkeiten | |
| abgeblasen, Urkunde und Geld in einer neutralen Paketbombe nach Deutschland | |
| geschickt, die vom DHL-Boten wegen Abwesenheit Luxemburgs jedoch bei den | |
| Nachbarn abgegeben wird. Als die Sozialistin nach Hause kommt, sind von | |
| ihrer Wohnung nur noch Trümmer übrig. | |
| 1927: Nach einigen konservativen und allgemein als mutlos empfundenen | |
| Entscheidungen überrascht das Nobelpreiskomitee mit der Würdigung eines | |
| gewissen Adolf Hitler für dessen soeben erschienene Nachdenkschrift „Mein | |
| Kampf“. Die „Lügenpresse“ (Hitler) spart nicht mit Kritik an der | |
| „Emporhebung eines trivialen Lokusliteraten in den Kreis der Dichter von | |
| Wälzdrang“ (Frankfurter Rundschau). Allerdings sollte die Geschichte der | |
| Schwedischen Akademie in diesem Falle ausnahmsweise einmal recht geben: | |
| Hitlers Schrift entwickelte sich schon wenig später zu einem veritablen | |
| Bestseller und ging als „lebenswahres, mutiges Buch für lange Winterabende | |
| in Russland“ (Spiegel) in die Literaturgeschichte ein. | |
| 1951: Durch die Erfahrung des Krieges fällt die Wahl der Jury wieder | |
| unpolitischer aus. Stellvertretend für die Millionen Schreibmaschinen, die | |
| den Autoren jeden Tag treue Dienste leisten, aber nie je für ihre Arbeit | |
| entlohnt werden, bekommt eine Olivetti den Nobelpreis für Literatur | |
| verliehen. Trotz anfänglicher Sympathien bei einigen Gelehrten fällt das | |
| allgemeine Urteil spätestens nach der Dankesrede des Geräts vernichtend | |
| aus. Stilistisch und inhaltlich sei das „bestenfalls Durchschnitt“ gewesen, | |
| „nichts für die Ewigkeit“, ist man sich einig. Insbesondere wird der | |
| Olivetti eine „technisch zwar einwandfreie, aber seltsam seelenlose, | |
| mechanische Herangehensweise“ vorgeworfen. | |
| ## Der Weltliteratur kein einziges Wort hinzugefügt | |
| 1999: Einer Pfeife und einem Schnauzbart wird mit dem Preis dafür gedankt, | |
| der Weltliteratur kein einziges Wort hinzugefügt und damit den Frieden in | |
| der Gedankenwelt ungemein gefördert zu haben. Ärger gibt es trotzdem, weil | |
| allgemein angenommen wird, der zu den beiden Gebilden gehörende Günter | |
| Grass werde in Wahrheit ausgezeichnet. Und bei dem gehören die Bücher | |
| schließlich noch zu den harmloseren Dingen, die er verzapft hat. | |
| 2016: Die Jury in Stockholm wählt Folk-Opa Bob Dylan aus Hunderttausenden | |
| von Autoren und erntet damit den Unmut der im stillen Kämmerlein vor sich | |
| hin tippenden Internetnutzer. Die Literatur sei dem Untergang geweiht, der | |
| Nobelpreis keinen Pfifferling mehr wert, schäumt man. Nun sei wohl alles | |
| scheißegal, als nächstes würden dann wahrscheinlich Kim Jong Un oder Joko | |
| und Klaas ausgezeichnet. Enttäuscht sind vor allem Philip Roth und Joko und | |
| Klaas, die von vielen Beobachtern schon länger „auf der Liste“ gesehen | |
| wurden. Kleine Genugtuung für die Kollegen: Bob Dylan kann den Preis nicht | |
| persönlich entgegennehmen. Schlechtes Karma und Dylans Angst vor einem | |
| siebenköpfigen Ungeheuer verhindern die Reise. | |
| 10 Dec 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Valentin Witt | |
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