# taz.de -- Die Wahrheit: Willy auf Rollen | |
> Es wird Frühling – und schon sind die Skater mit ihren Brettern wieder | |
> unterwegs. Um wie immer brutal auf die Fresse zu fliegen … | |
Bild: Sobald die Sonne herauskommt, skaten sie sich mächtig einen ab | |
Die letzten Frosttage sind vorüber, schon streckt die eine oder andere | |
Blüte vorwitzig ihren bunten Kopf in den Rasenmäher, und erste | |
Fruchtfliegen machen sich über die Abfallreste des Winters her. | |
Auch andernorts erwacht man: Die düstere Jahreszeit haben sie meist | |
zurückgezogen in dunklen Höhlen verbracht und dabei bis zu dreiundzwanzig | |
Stunden am Tag geschlafen; jetzt im Frühjahr kann man sie wieder häufiger | |
beobachten. Wild wuseln sie durcheinander, jagen sich gegenseitig und | |
versuchen mit Wettkämpfen ihren Platz in der Hierarchie der zumeist | |
männlichen Rudel zu erkämpfen: Skateboarder. | |
Sobald die Sonne herauskommt, stehen sie in voller Montur auf ihren | |
Brettern und skaten sich einen ab. Erlaubt ist, was gefällt und von den | |
„Buddys“ oder „Kumpels“, nicht peinlich gefunden wird. Neben Plätzen i… | |
Innenstadt sind besonders Skateparks beliebt, etwa am Frankfurter Osthafen. | |
Dort versammelt sich die Szene und tauscht die neuesten Tipps und Tricks | |
aus. Aktuell schwer angesagt ist es, die Rollen, „Rolls“ genannt, mit | |
Stahlspikes auszurüsten, um sich maximale Haftung in den „Halfpipes“ | |
genannten Rampen zu verschaffen. | |
## Todesmutiger Sturz ins Halbrund | |
Tobias ist fünfzehn und skatet jetzt schon seit zwei Jahren. Mit feuerrotem | |
Kopf steht er auf dem sechs Meter hohen Gerüst und blickt misstrauisch nach | |
unten. „Komm schon!“, rufen die anderen von unten. „Sei kein Willy!“ – | |
„Willy“ ist Skaterslang und bedeutet soviel wie Weichei. Die schlimmste | |
Beleidigung, die in der Szene möglich ist. So etwas kann Tobias sich | |
selbstverständlich nicht bieten lassen! Todesmutig stürzt er sich nach | |
unten ins Halbrund und fliegt brutal auf die Fresse. „Kann passieren“, | |
lacht er, als er wieder oben steht und sein Gebiss zurechtrückt. | |
Wer ein echter Skater sein will, braucht eine harte Nuss. Schürfwunden und | |
Prellungen gehören zum Alltag, nicht wenige fahren auch mit Stauchungen | |
oder offenen Brüchen weiter. Wer sich einmal den Ruf als Willy eingehandelt | |
hat, wird ihn so schnell nicht wieder los. Deshalb quälen sich viele gegen | |
den Rat von Ärzten und Trainern bis an den Rand des physischen | |
Zusammenbruchs. Abermals rollt Tobias die steile Halfpipe hinunter, und | |
dieses Mal glückt der Stunt. Mit einer dreifach lockeren Schraube landet er | |
glücklich auf der anderen Seite, wo er von seinen Freunden johlend ein paar | |
Ohrfeigen bekommt – in der Szene ein Zeichen für maximalen Respekt. | |
Zur Feier des Tages schenken Tobias’ Freunde ihm eine Dose Bier, die er in | |
einem Zug hinunterstürzt. Auch das ist Alltag im Skatermilieu: Alkohol- und | |
Drogenkonsum. „Wenn ich high bin, fahre ich mindestens doppelt so gut“, | |
sagt Kalle, mit 54 Jahren einer der Älteren in der Gruppe. Seinen ersten | |
Joint rauchte er mit 53, wenig später ließ er sich am ganzen Körper | |
tätowieren, bekam lange Haare und sieht inzwischen richtig hinüber aus. | |
„Skaten ist für mich einfach eine Lebenseinstellung geworden“, | |
philosophiert er und bietet den Jugendlichen ein Tütchen Marihuana zum | |
Zehnerkurs an. „Passen Sie auf, ich zeige Ihnen einen Trick!“ Kalle legt | |
eine Ecstasy-Tablette auf die Spitze seines Bretts und tritt auf die andere | |
Seite, sodass die Pille direkt in seinem Mund landet. | |
## Wüstes Kauderwelsch der Kumpel | |
Elterninitiativen und Suchtberatungsstellen warnen längst davor, mit dem | |
Skateboardfahren anzufangen. Wer einmal in den Szenestrukturen festhänge, | |
könne sich oft nur schwer wieder davon lösen. So wie Tobias von dem | |
Stacheldrahtzaun, der den Platz umgibt. „Bei dem Versuch, einen gerippten | |
Ledgeburner über die Hip zu droppen, bin ich mit der Spine an den | |
Truckrevert gekommen und habe mich im Wire verfangen. Können Sie mir | |
vielleicht kurz helfen? Aber bitte so, dass die anderen es nicht sehen!“ | |
Für Außenstehende wirkt der Slang oft wie wüstes Kauderwelsch, doch für die | |
Skater selbst ist es oft die einzige Sprache, die sie neben Deutsch, | |
Englisch und anderen Fremdsprachen beherrschen. | |
Inzwischen haben sich auch andere aus der Gruppe in Bewegung gesetzt und | |
fahren im Handstand durch den Betonparcours, wirbeln meterhoch durch die | |
Luft oder „grooven“, also rutschen mit den Achsen auf den Treppengeländern | |
aus. Gut und gerne hunderttausend Euro an Ausrüstungsmaterial rollen über | |
den Platz. Gutes Equipment inklusive Schutzausrüstung kostet die Eltern | |
oft ein kleines Vermögen, nur wenige der Sprösslinge verfügen so wie der | |
Altskater Kalle über ein eigenes Einkommen. In Brettern der neuesten | |
Generation sind längst kleine Motoren eingebaut, die das Fahrvergnügen noch | |
waghalsiger werden lassen – und noch sehr viel gefährlicher. | |
Tobias stört das nicht. Die Gefahr verdrängt er bewusst. Seine Kumpel haben | |
ihn zu einer letzten Mutprobe eingeladen. Mit einem „900“, einer | |
zweieinhalbfachen Drehung, soll er von der Halfpipe auf ein Treppengeländer | |
springen und dort einen doppelten Salto vollführen. Natürlich landet Tobias | |
bei dem Versuch hart auf der verquollenen Nase. Von seinen Freunden wird er | |
zur Strafe verprügelt. | |
5 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Valentin Witt | |
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