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# taz.de -- 25 Jahre Stasi-Unterlagen-Gesetz: Ein Erbe aus 5.340 Tonnen Papier
> Monströse Ausmaße: Die Stasiakten belegen, wie konsequent der
> DDR-Geheimdienst gegen jede Opposition im eigenen Land vorging.
Bild: Bis Mitte 2016 über 3,1 Millionen Anträge auf persönliche Akteneinsich…
Berlin taz | Sie sind die stummen Zeugen eines untergegangenen
Geheimdienstes und dokumentieren vier Jahrzehnte einer nahezu lückenlos
überwachten Welt. Sie berichten von der eigenen Macht und der Ohnmacht der
anderen. Einigen bescheinigen sie menschliche Würde, anderen Niedertracht.
Als „operative Vorgänge“, „Feindobjektakten“ oder „operative
Personenkontrolle“ belegen die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit,
wie konsequent der Geheimdienst der DDR gegen jede Opposition im eigenen
Land vorging – und wie erfolgreich er in der alten Bundesrepublik Politik
und Behörden unterwandert hatte. Seit 25 Jahren sind diese Unterlagen jetzt
zugänglich. Am 29. Dezember 1991 trat das Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft,
vier Tage später durften die ersten Stasiopfer ihre Akten sehen.
Der Öffnung der Stasiakten ging eine heftige Kontroverse voraus. Nicht
wenige, darunter der letzte DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel,
forderten, die illegal angehäuften Erkenntnisse umgehend zu vernichten. Die
Akten sollten verbrannt werden oder unter einem riesigen Betondeckel
verschwinden. Die Befürworter einer Aktenvernichtung befürchteten eine
„Lynchstimmung“ gegen die früheren Stasi-Mitarbeiter; mit der Offenlegung
der Papiere werde das gesellschaftliche Klima nach der Überwindung der
SED-Diktatur dauerhaft vergiftet. Selbst Mord und Totschlag wollten sie für
den Fall der Veröffentlichung nicht auszuschließen.
Die anderen, zumeist Mitglieder der Bürgerbewegung, stritten für den freien
Zugang zu den Stasi-Akten. Ihr Argument: Das in 35 Jahren angesammelte
Herrschaftswissen im SED-Staat müsse an die Bevölkerung zurückgegeben
werden. Wer die Akten vernichte, behindere nicht nur den notwendigen
gesellschaftlichen Heilungsprozess – er vernichte auch die Chance auf eine
geschichtliche und kulturelle Aufarbeitung der SED-Herrschaft.
Begleitet wurde die Debatte durch immer neue Meldungen, die aus dem
Schattenreich des früheren Machtinstruments drangen, mal über den obersten
DDR-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski, mal über die Aufnahme
von zehn kampfesmüden Mitgliedern der terroristischen Roten Armee Fraktion
in der DDR Mitte der achtziger Jahre.
## 178 Kilometer Akten
So klar die Vergangenheit, so unklar ist derzeit die Zukunft der
Stasiaktenbehörde. Eine unabhängige Expertenkommission hatte nach
monatelangen Verhandlungen im April des Jahres im Kern empfohlen, die
Stasiakten bis 2021 ins Bundesarchiv zu überführen. Eine neue Stiftung
sollte die weitere Geschichtsaufarbeitung sicherstellen und die frühere
Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg zum „Ort der Aufklärung über Diktatur
und Widerstand“ weiterentwickelt werden.
Die Rechnung wurde aber ohne die Verbände der Stasiopfer gemacht. Die
protestierten vehement gegen eine Auflösung, anschließend wurden die
Vorschläge ad acta gelegt. Der Bundestag beschloss dann mit der Mehrheit
der Regierungsfraktionen, über den Umbau der Behörde erst in der nächsten
Legislaturperiode zu entscheiden.
Insgesamt 178 Kilometer Akten hat der Geheimdienst nach seiner Auflösung
hinterlassen. Der gesamte Aktenberg bringt etwa 5.340 Tonnen auf die Waage.
Hundert Kilometer der Papiere sind heute wie vor Wendezeiten in einem
fensterlosen Neubau in der ehemaligen Berliner Stasizentrale an der
Normannenstraße gelagert.
Die monströsen Ausmaße der MfS-Überwachung schlugen sich sogar in der
Architektur der Stasigebäude nieder. Wände und Böden des neunstöckigen
Zentralarchivs mussten aus besonders dickem Beton gefertigt werden, damit
es den Belastungen durch die gewaltigen Papiermassen überhaupt standhalten
konnte.
Statistisch ist die Öffnung der Stasiakten ein Erfolg. Seit Bestehen der
Behörde wurden bis Mitte 2016 über 3,1 Millionen Anträge auf persönliche
Akteneinsicht gestellt. Zunehmend wichtiger ist der Zugang zu den Akten für
Wissenschaftler und Journalisten. Im Jahre 2015 wurde rund 1.350 Mal
Einsicht in die Akten für die historische Aufarbeitung und für
Bildungsprojekte beantragt.
## Stolpe, Gysi, Kohl
Immer wieder hat das Wissen aus den Akten öffentliche Diskussionen über
Verantwortlichkeit in einer Diktatur entfacht – und über die Konsequenzen,
die daraus für heute gezogen werden können. In den Anfangsjahren bestimmten
prominente Politiker und ihre Stasi-Verstrickungen die Schlagzeilen.
Manfred Stolpe, Gregor Gysi und der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl
stehen exemplarisch für diese Diskussionen.
Die Befürworter einer Aktenöffnung mussten sich allerdings bald der
Bürokratie beugen. Bürgerbewegte, Kirchen und Stasiauflöser hatten stets
darauf beharrt, dass jede Stasiverstrickung nur im konkreten Einzelfall
bewertet werden könne. Die individuellen Umstände sollten in Rechnung
gestellt werden, wenn eine Person etwa zur Zusammenarbeit mit dem MfS
erpresst worden war. Die Hoffnung war aber auch, dass sich über diese
Diskussionen zivilgesellschaftliche Normen entwickeln und der
postkommunistischen Gesellschaft ein demokratisches Korsett angelegt werden
könnte.
Stattdessen wurden – wie in der aktuellen Auseinandersetzung um den
Berliner Bau-Staatssekretär Andrej Holm – im Bereich des öffentlichen
Dienstes Fragebögen eingeführt, in denen Stellenbewerber eine mögliche
Stasitätigkeit anzukreuzen hatten. Einem falsch gesetzten Kreuz folgt meist
die Entlassung – nicht wegen der früheren Arbeit für den DDR-Geheimdienst,
sondern wegen falscher Angaben bei der Anstellung. Die öffentliche Hand
verkehrte so die Intentionen, die mit der Öffnung der Archive verbunden
waren.
Trotz alledem: Zweieinhalb Jahrzehnte nach der Öffnung der Stasiakten
belegt schon die Normalität, in der die Aktenbehörde ihren Auftrag erfüllt,
den Erfolg dieses beispiellosen Experiments. Einmal gewährt, ist das Recht,
den von staatlicher Willkür verzerrten Teil der individuellen Biografie
kennen zu lernen, nicht rückholbar. Warum auch? Was in den Lesesälen der
ehemaligen Stasizentrale stattfindet, ist Staatsbürgerkunde der
einprägsamsten Art. Die gesellschaftliche Resistenz gegen autoritäre und
nostalgische Verlockung lässt sich wohl kaum sicherer fördern als durch die
Konfrontation mit den Akten.
29 Dec 2016
## AUTOREN
Wolfgang Gast
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Geheimdienst
Schwerpunkt Überwachung
DDR
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