| # taz.de -- Buch über das geteilte Berlin vor 1961: Die toten Grenzgänger | |
| > Die Dokumentation „Die vergessenen Toten“ erinnert an die 39 Opfer, die | |
| > nach der Teilung der Stadt 1948 bis zum Mauerbau 1961 an der Grenze | |
| > umkamen. | |
| Bild: Tatort Lohmühlenstraße: 1953 wurde hier der Westberliner Ludwig Fraunho… | |
| Einen Tag vor Silvester machte sich der 34 Jahre alte Walter Tögel aus der | |
| Schumannstraße nahe der Charité mit seinem Fahrrad in Richtung | |
| Invalidenstraße auf. In seinem Rucksack steckten ein paar Lebensmittel. Ob | |
| er die gegen D-Mark in Westberlin verkaufen wollte oder die Sachen für | |
| Freunde gedacht waren, ist nicht bekannt. | |
| Am Ostberliner Grenzkontrollpunkt Invalidenbrücke soll Tögel sich | |
| ausweisen. Dann, so steht es im späteren Bericht der Volkspolizei, habe der | |
| Radler die Kontrolle verweigert und „wollte sich durch Flucht entziehen“. | |
| Der Vopo riss Tögel vom Rad und schoss. Tögel erhielt einen Bauchschuss und | |
| starb noch am 30. Dezember 1955. Er hinterließ seine Frau und drei Kinder. | |
| Die Geschichte von Walter Tögel ist eine von insgesamt 39 Biografien, die | |
| die Historiker Gerhard Sälter, Johanna Dietrich und Fabian Kuhn in der | |
| neuen Dokumentation, „Die vergessenen Toten. Todesopfer des | |
| DDR-Grenzregimes in Berlin von der Teilung bis zum Mauerbau (1948 bis | |
| 1961)“, zusammengetragen haben. Die Opfer waren keine Mauertoten. Berichtet | |
| wird von den ersten Leidtragenden, die quasi in der „Vorgeschichte“ der | |
| martialischen Grenze ums Leben kamen, aber danach aus der öffentlichen | |
| Wahrnehmung verschwanden. | |
| Das Buch aus dem Hause der Stiftung Berliner Mauer versucht folglich, diese | |
| „vergessenen Toten aus der Anonymität zu holen“, wie Sälter schreibt, und | |
| zugleich ein „Defizit in der Forschung“ zur Zeit der beginnenden Spaltung | |
| der Stadt ab der Blockade 1948 aufzuarbeiten. | |
| Bislang hat eine solche Publikation zu diesem Abschnitt der Berliner | |
| Stadtgeschichte gefehlt. Das Standardwerk „Die Mauertoten“ (2009) von | |
| Hans-Hermann Hertle lässt die Schicksale der frühen Opfer an der 120 | |
| Kilometer langen Grenze durch Berlin und zum Umland bis 1961 außen vor. | |
| Konzeptionell knüpfen Sälter und seine Mitstreiter an die Vorgängerstudie | |
| an. Werden doch auch in diesem Buch der politische Kontext, die spürbare | |
| Teilung Berlins im Kalten Krieg, die Entwicklung der Kontrollstrukturen mit | |
| den 39 Lebensgeschichten verwoben – und den Opfern endlich Gesichter | |
| gegeben, an die man sich erinnern kann. | |
| Leicht war die Aufklärung der 39 Todesfälle aus Ost und West für die | |
| Historiker sicher nicht. Bis auf ein paar spektakuläre Fälle, die damals | |
| durch die Presse gingen, legte sich über diese Grenztoten der Schatten der | |
| Geschichte. Über Wolfgang Scheunemann (1933 bis 1948) etwa, der nach der | |
| Reuter-Rede („Schaut auf diese Stadt“) erschossen wurde, oder über Herbert | |
| Bauer (1925–1952), einen getöteten Westpolizisten, fanden sich viele | |
| Zeitungsartikel, Fotos, Berichte zum Tathergang, polizeiliche | |
| Ermittlungsakten und Biografisches. | |
| Aber wer waren Ludwig Fraunhofer, Heinrich Gerbholz, Else Auris oder der | |
| DDR-Grepo Fritz Maqué, der 1948 am Kontrollpunkt Oberbaumbrücke überfahren | |
| wurde? Warum fielen sie alle durch den Gedächtnisrost? | |
| Die Spurensuche, und das macht das Buch lesenswert und spannend, beginnen | |
| Sälter und Co. im Berlin der Nachkriegsjahre, das bis 1961 noch „eine | |
| Stadt“ – aber mit zwei Verwaltungen und politischen Systemen ausgerüstet | |
| war. 1950 arbeiteten noch 89.000 Westberliner im Ostteil, umgekehrt waren | |
| es 41.000. Der SED missfiel zusehends, dass unterschiedliche Währungen, der | |
| Handel, das Eindringen westlicher Presse und Nachrichtendienste ihre Macht | |
| unterminierten. Ostberlin setzte darum verstärkt auf „Abgrenzung“. | |
| Gab es Anfangs nur sporadische Überprüfungen an Straßen oder in Bahnhöfen, | |
| bei denen Ost-West-Passanten nach ihren Papieren gefragt wurden, so | |
| verschärfte die DDR-Regierung nach dem 17. Juni und der Fluchtwelle 1953 | |
| (250.000 Personen) durch „intensive Kontrollen“ und neue Passgesetze die | |
| Lage. An der „Staatsgrenze“ zu Westberlin entstand ein immer dichter | |
| werdender Sperrgürtel. Neue Grenzposten, sowjetische Militärs und | |
| bewaffnete Polizisten kamen hinzu. Mitte der 1950er Jahre waren zum Teil | |
| nur noch vier Straßen für Autos als Übergänge nach Westberlin passierbar. | |
| Die Atmosphäre der Konfrontation, der Kälte überzog die Grenze. | |
| Bei der Recherche zu den Grenztoten in Archiven der Staatssicherheit oder | |
| der Staatsanwaltschaften fiel den Autoren auf, dass der „Waffengebrauch | |
| durch die Grenzpolizisten umstandslos und extrem unverhältnismäßig“ war. | |
| Gleichwohl war klar geregelt, wann die Waffe zu benutzen ist: Erst nach | |
| Zuruf und Warnschuss konnte scharf geschossen werden, 1959 waren Schüsse | |
| sogar verboten worden. | |
| Einige Biografien verdeutlichen diese wahnwitzigen | |
| „Unverhältnismäßigkeiten“ im Verhalten der Grenzer. Die wenigsten Toten | |
| waren Agenten, Deserteure oder politische Flüchtlinge, sondern Grenzgänger, | |
| kleine Schieber, Betrunkene. Viele waren unbedarft, wollten nur nach | |
| Westberlin ins Kino, wollten etwas Geld machen oder gerieten bei Kontrollen | |
| in Panik: etwa wie Fredi Bröker, der 1955 in seinem Wagen in Hektik geriet | |
| und erschossen wurde, oder wie Helmut Ryll, der 1949 betrunken am Steuer | |
| saß und nicht anhielt. | |
| Das dichte Bild von dem ostwestlichen Berlin jener Zeit und den vielen | |
| dramatischen Lebensumständen verblasst am Ende des Buches ein wenig. Geht | |
| es etwa um den Tod zweier alliierter Soldaten und der Ostberliner | |
| Polizisten, um Unfälle, Selbstmorde oder andere Todesursachen an der | |
| Grenze, werden die Autoren weniger konkret, weniger hintergründig. Sie | |
| navigieren dort mit noch zu wenigen Informationen. Das könnte aber ein | |
| weiteres Kapitel der Grenzregimeforschung werden. | |
| Gerhard Sälter u. a.: „Die vergessenen Toten“. Chr. Links Verlag, 30 Euro. | |
| Das Buch wird am Dienstag, 15.11., in der Mauerstiftung, Bernauer Straße um | |
| 19 Uhr vorgestellt | |
| 15 Nov 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Rolf Lautenschläger | |
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