# taz.de -- Geschichte einer Flucht: Ein Film von der ganzen Familie | |
> Karla Sonntag hat einen Film über die Flucht eines Mannes aus der DDR | |
> gemacht. Bei „Ludwigs Absprung“ wird das Filmemachen zum | |
> Familienunternehmen | |
Bild: Das Notaufnahmelager Marienfelde: Eine Station in der Fluchtgeschichte Lu… | |
BREMEN taz | Wenn von einer Demokratisierung des Films durch die | |
Digitalisierung die Rede ist, wird meist auf die heute 16-Jährigen | |
verwiesen. Die mögen vielleicht in prekären Verhältnissen leben, aber mit | |
ihren iPhones nehmen sie womöglich ein filmisches Meisterwerk der nächsten | |
Jahre auf. Doch nicht weniger eindrucksvoll ist die Geschichte einer Frau, | |
die erst mit 60 Jahren beschließt, ihren ersten Film –gänzlich unabhängig | |
–zu produzieren. Dass man auch noch im fortgeschrittenen Alter anfangen | |
kann, Filme zu machen, beweist gerade die Bremerin Karla Sonntag. Bei | |
„Ludwigs Absprung“ handelt es sich um eine professionell gedrehte | |
Dokumentation, wie es noch vor zehn Jahren nicht möglich gewesen wäre. | |
Vor wenigen Wochen hatte „Ludwigs Absprung“ in der ausverkauften Bremer | |
Gondel Premiere: ein Heimspiel für das Bremer Filmbüro. Die Dokumentation | |
erzählt von einem unbegleiteten jugendlichen Flüchtling: Ludwig Sasse war | |
17 Jahre alt, als er 1956 als einer von drei Millionen Menschen vor dem Bau | |
der Berliner Mauer aus der DDR floh. Ganz banal fuhr er mit der S-Bahn von | |
Ostberlin nach Westberlin und auch im Lager „für jugendliche männliche | |
DDR-Flüchtlinge“ in Sandbostel bei Rotenburg sind ihm traumatische | |
Erlebnisse erspart geblieben. | |
Wie ihn diese Erlebnisse dennoch prägten und woran genau er sich noch nach | |
60 Jahren erinnert, kann Karla Sonntag mit einem dramaturgischen Trick | |
besonders gut herausarbeiten: Im Film befragt die 21-jährige Mali Sasse | |
ihren Großvater Ludwig über die Zeit und das Erlebte. Er erzählt in einem | |
vertrauten Ton, den Sonntag in einer formelleren Interviewsituation sicher | |
nicht hätte einfangen können. | |
Ludwig Sasse ist ein in Bremen lebender bildender Künstler. Karla Sonntag | |
lernte ihn auf einer Ausstellungseröffnung kennen. Beide sind gebürtige | |
Leipziger. Sonntag hatte bereits einen kleinen Film über das Lager | |
Sandbostel gedreht und sich entschlossen, mehr zu diesem Thema zu machen. | |
Sie erfuhr, dass Sasse dort für einige Wochen interniert war. Das war der | |
Impuls für ihre Zusammenarbeit, aus der sich der Film entwickelte. | |
Die Gespräche mit seiner Enkelin bilden den Kern des Werks. Sasse erzählt, | |
wie er als frommer Christ an seiner Schule von den Funktionären der FDJ | |
drangsaliert wurde, bis er sich eines Abends ohne viel Aufhebens von seinen | |
Eltern verabschiedete und das Land verließ. | |
Wie bei solchen Dokumentationen üblich, hat Sonntag möglichst viele | |
Originaldokumente –Fotos und Briefe –in den Film geschnitten. | |
Ungewöhnlicher und überraschender ist es, dass sie auch viele Ausschnitte | |
aus seinen Gemälden verwendete. Sie sollen Sasses Erinnerungen möglichst | |
präzise spiegeln. Ganz nebenbei bekommt man hier ebenfalls einen Einblick, | |
aus welchen Erfahrungen sich Sasse in seiner Kunst bedient. | |
Mit kleinen Filmberichten, die auf der Methode des Sprechenlassens von | |
Zeitzeugen basieren, hat Karla Sonntag ihre Arbeit als Filmemacherin | |
begonnen. Als Wirtschaftsingenieurin bekam sie nach ihrem Umzug von Leipzig | |
nach Bremen im Jahr 1999 keine Arbeit mehr. 2003 meldete sich die damals | |
60-Jährige auf einen Aufruf des Bürgerkanals, der eine Sendereihe plante, | |
die von älteren Menschen für ältere Menschen gestaltet wurde. | |
Ehrenamtlich arbeitete sie zunächst beim Offenen Kanal an der Kamera, | |
machte den Ton, führte Regie und moderierte Sendungen. Schon ihr erster | |
Beitrag handelte von einer Frau, die im Zweiten Weltkrieg über ein Haff in | |
der Ostsee geflohen war. Bald machte sie die ganze Sendereihe fast im | |
Alleingang und lernte so die verschiedenen Gewerke kennen. | |
Doch die Arbeit beim Offenen Kanal wurde für sie mit der Zeit | |
unbefriedigender. Sie bezweifelte, „dass sich das überhaupt jemand | |
anguckte“. Ihre erste Auftragsarbeit war der „Wümmefilm“, in dem sie | |
Künstler porträtierte, die an dem kleinen Fluss bei Bremen leben. Heute | |
sagt sie, es wäre schön gewesen, erstmals für die Arbeit bezahlt zu werden. | |
Aber sie machte auch schlechte Erfahrungen mit dem Projekt: Ein | |
befreundeter Musiker komponierte zwar umsonst einen Titel für sie, doch die | |
Gema verlangte trotzdem Tantiemen. Es wäre zu teuer geworden, den Film | |
fortzuführen. | |
In eine ähnliche Falle tappte Sonntag 2009 mit ihrem Film „Die | |
Pappenheimer“ über Künstlerinnen in Niedersachsen, die ihr nach | |
Fertigstellung des Films das Recht entzogen, ihn nach der ersten Vorführung | |
weiter zu zeigen. | |
Fallstricke, die eine unabhängige Filmemacherin vermeiden lernen muss. Bei | |
„Ludwigs Absprung“ beweist Sonntag, wie erfindungsreich sie dabei | |
inzwischen geworden ist: Die Musik des Films ist eine Live-Performance mit | |
Sasses Enkelin, die als Cellistin in einer Band spielt. Bei der Aufnahme | |
improvisierte sie, sodass es hierbei keine Copyright-Probleme gab. Auch | |
sonst arbeitete sie extrem sparsam: Sie selbst stand hinter der Kamera und | |
montierte den Film mit einem Schnittprogramm an ihrem Computer. | |
Sonntags Mann machte Ton und Licht –und für Ton- und Farbkorrekturen in der | |
Postproduktion spannte sie ihren Sohn ein, der ein leidenschaftlicher | |
Studiotechniker ist. Zuhause werden auch die DVDs gebrannt, verpackt und | |
verschickt. Filmemachen wird bei Karla Sonntag zum reinen | |
Familienunternehmen. | |
Ihren nächsten Film will Sonntag wieder über Ludwig Sasse machen. Der hat | |
lange mit seiner Familie in Afrika gelebt, erst spät entschied er sich, | |
Künstler zu werden. Vielleicht ist es das, was die beiden verbindet. | |
15 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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