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# taz.de -- Lesewettbewerb „Open Mike“ in Berlin: Sehnsucht nach Sinn
> Sich durchs Leben schummeln? Das findet der Protagonist falsch in einer
> Geschichte von Thilo Dierkes, der damit den „Open Mike“ gewann.
Bild: Die Gewinner des „Open Mike“: Thilo Dierkes, Sandra Burkhardt, Benjam…
Wenn Texte neue Ideen verkörpern oder alte Ideen anregend darstellen, wenn
der Sätze nicht zu viele oder zu wenige sind, wenn Zuhörende überrascht
werden, etwas gewagt wird …, dann stehen die Gewinnchancen beim „Open
Mike“, dem renommiertesten Nachwuchswettbewerb der deutschsprachigen
Literatur, ganz gut.
Um das zu bestätigen, haben sich sechs Lektorinnen und Lektoren zum nun 24.
Mal durch rund 550 Einsendungen gelesen und 22 davon zur finalen
Entscheidung vor einer dreiköpfigen Jury ausgewählt. Am vergangenen
Wochenende wurden all diese Texte von ihren VerfasserInnen vorgetragen, in
orangefarbenem Licht und dem andächtigen Ambiente des Berliner Heimathafens
Neukölln.
Die aufgeregte Stimmung im Vorraum und die Willkommensreden lassen die
großen Fragen erahnen: Wer schafft es, mit einem Text, der nicht mehr und
nicht weniger als 15 Minuten Lesezeit in Anspruch nehmen darf, zu
überzeugen? Welcher Lektor, welche Lektorin hatte den richtigen Riecher?
## Visitenkarten, Agenten, Gerüchte
Inger-Maria Mahlke, 2009 selbst Erstplatzierte und nun Jurymitglied,
schreibt in ihrem Vorwort zum Wettbewerb: „Zum Open Mike gehört es,
intensive Gespräche zu führen, … die Erfahrung, alles durchgestanden und
ausgehalten oder Spaß dabei gehabt zu haben. Dazu gehören Visitenkarten,
Agenten und Lektoren. Gerüchte, wer von wem angesprochen wurde.“
Tatsächlich geht es hier ganz schön gesittet zu, obwohl das Event durchaus
als Sprungbrett in den Pool der schriftstellerischen Größen zu verstehen
ist. Der Konkurrenzgedanke scheint nicht im Mittelpunkt zu stehen,
behaupten viele Teilnehmende.
Es geht auch ums Kennenlernen, darum, in die Gedankenwelten anderer Autoren
und Autorinnen einzutauchen und ihren schon jetzt mit großer Anerkennung
versehenen Geschichten zu lauschen. Sie kommen aus Deutschland, Österreich,
der Schweiz und Liechtenstein. Niemand von den Antretenden hat einen
Migrationshintergrund. Einige studieren an den Literaturinstituten in
Hildesheim, Leipzig oder Wien.
## Zwischen Passivität und äußerem Druck
Ein 21-jähriger Germanistikstudent aus Freiburg, Thilo Dierkes, hat dieses
Jahr den ersten Preis abgeräumt. Warum, versteht man beim Lesen: In dem
Text „Von Ajaccio her“ philosophiert sein Protagonist über die
Belanglosigkeit des Daseins und eine Generation, die aufgegeben hat, dieser
Belanglosigkeit etwas entgegenzusetzen. Dabei formuliert er seine
Zerrissenheit zwischen der eigenen Passivität und dem äußerlichen Druck,
mit der Zeit etwas Sinnvolles anzustellen. Und er thematisiert die
Verklemmtheit einer Gesellschaft, die sich – an Wohlstand und
festgefahrenen Rollenbildern hängend – durchs Leben schummelt und dabei
Anerkennung findet. Am Ende möchte man weiterlesen.
So auch bei zwei weiteren Texten, die auch ohne Preis von der Jury
hervorgehoben werden. Deniz Ohdes Werk setzt sich thematisch von vielen
Erzählungen ab. Ihr Text handelt von Fürsorge, vom zermürbenden Alltag
einer Frau, die neben ihrer Arbeit gewissenhaft ihre todkranke Mutter
pflegt. Und er geht unter die Haut. Auch der Text „Kurze Szenerie mit
Loch“von Rudi Nuss wird gelobt, zeugt er doch von seinem „spielerischem
Talent“, mit Sprache und verschiedenen Genres umzugehen, so die Wertung.
Das Werk wird außerdem mit dem taz-Publikumspreis ausgezeichnet.
## Gedanken einer Generation
Zu den Gewinnern gehören auch Sandra Burkhardt in der Kategorie Lyrik und
der drittplatzierte Benjamin Quaderer mit seinem Romanauszug über ein
Neugeborenes, das seine Umgebung ironisch analysiert. „Meinen Namen zu
hören war krass, und ich bin immer noch sehr nervös, aber ich freue mich
natürlich sehr“, strahlt Burkhardt.
Insgesamt könnte man dieses Jahr die großen, politischen Themen vermissen,
denn es schreibt ja niemand über Pegida oder die Flüchtlingskrise! Trotzdem
bildeten die Texte die Gesellschaft und vor allem die Gedanken einer
Generation ab. Sie seien geprägt von einer Orientierungslosigkeit, einer
Ratlosigkeit, so die Lektorin Esther Kormann. Auch Sehnsucht findet sich
oft in den Werken wieder. Sehnsucht nach Bestätigung, nach Liebe, nach Sex,
nach Dazugehören, nach Lebenssinn, nach Größe, nach Gehörtwerden.
Zumindest bei Letzterem ist der „Open Mike“, der vom Haus für Poesie und
der Cresto Foundation ermöglicht wird, eine große Unterstützung.
Schließlich öffnet er die Türen weit für die versammelte Fülle an
literarischem Potenzial.
14 Nov 2016
## AUTOREN
Katharina Schantz
## TAGS
Literatur
Literaturbetrieb
open mike
Schwerpunkt #metoo
tazbehinderung
Theater Osnabrück
deutsche Literatur
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