| # taz.de -- Roman über Vergewaltigung: Das Opfer macht sich zur Täterin | |
| > Kate Elizabeth Russells „Meine dunkle Vanessa“ überzeugt durch die | |
| > unzuverlässige Erzählerin. Erlebbar wird die Verdrängung einer | |
| > Vergewaltigung. | |
| Bild: Als Debattenbeitrag reflektiert der Roman #MeToo als ambivalente Bewegung | |
| Wenn plötzlich klar wird, dass man der Erzählstimme nicht trauen kann, | |
| wurde man bisher vom Roman überlistet – was oft bedeutet, dass er ziemlich | |
| gut ist. Das ist der Fall bei „Meine dunkle Vanessa“, dem Debüt der | |
| amerikanischen Schriftstellerin Kate Elizabeth Russell, das Vergewaltigung | |
| und sexuellen Missbrauch thematisiert – oder vielmehr deren Verdrängung, | |
| denn fast alle Romanfiguren sperren sich diesen Begriffen durchweg. | |
| 17 Jahre lang festigt die Protagonistin Vanessa Wye ihre Überzeugung, dass | |
| sie für ihr Verhältnis zu Jacob Strane, ihrem Literaturlehrer, irreführend | |
| und unbrauchbar sind – und zieht Lesende hinein in ihren schmerzhaften | |
| Aushandlungsprozess. | |
| Obwohl Vergewaltigungsszenen klar erkennbar sind, dreht Vanessa die | |
| traumatisierenden Geschehnisse im Nachhinein – ihre Schulzeit um 2000 wird | |
| durch eine zweite Zeitebene von 2017 kontextualisiert – sogar um. Alle | |
| Irritationen fügt sie in eine konstruierte, unschuldige Liebesgeschichte | |
| ein, in der sie selbst und Strane durch Zufall in die Körper einer | |
| Teenagerin und ihres mittelalten Lehrers geboren sind. | |
| Befeuert wird dies von Strane selbst, der sich als gerissener Antagonist | |
| entpuppt und Lesende und Romanfiguren durch seine Eloquenz betört. Indem er | |
| Vanessa Literatur wie [1][Vladimir Nabokovs] „Lolita“ als Freizeitlektüre | |
| schenkt, legt er ihr eine eindeutige Interpretationsgrundlage für die | |
| Ereignisse in die Hände – denn der Roman von 1955 beschreibt die pädophile | |
| Beziehung des Literaturprofessors Humbert zu seiner zwölfjährigen Schülerin | |
| Dolores aus dessen eigener Perspektive. In ihr nimmt er Dolores als | |
| frühreife und verführerische Frau wahr und befreit sich so von Schuld. | |
| Vanessa überzeugt sich so glaubhaft von dieser Lesart, dass Fakt und | |
| Fiktion allmählich verschwimmen. Ihre unzuverlässige Erzählweise, die sogar | |
| Opfer- und Täterrolle austauscht, ist eine großartige Errungenschaft des | |
| Romans. Ein ums andere Mal verteidigt Vanessa Strane und beschuldigt | |
| stattdessen sich selbst, stößt Vertrauenspersonen ab und negiert das klare | |
| Verbrechen. So konstant, dass man sie frustriert schütteln möchte – und | |
| gleichzeitig erschrickt, weil ihre Handlungen doch verständlich scheinen. | |
| ## Spott und Ärger über #MeToo | |
| Die Strukturen von Browick, Vanessas fiktivem Internat in Maine, dessen | |
| renommierter Ruf unter allen Umständen aufrechterhalten werden soll, | |
| terrorisieren Vanessa zusätzlich. Früher oder später zerbröselt Vanessas | |
| gesamtes soziales Umfeld. So umgeht Russell Happy-Ends, wo sie nur kann. | |
| „Meine dunkle Vanessa“ ist keine Gutenachtgeschichte, in der das Opfer | |
| kraftvoll gegen ein Unrecht einsteht und mit Gerechtigkeit belohnt wird. | |
| Stattdessen entblößt der Roman unablässig und qualvoll ihre Wunden, die aus | |
| unerwarteter Richtung vertieft werden: Als Debattenbeitrag reflektiert der | |
| Roman #MeToo als ambivalente Bewegung, die – als Rückseite ihrer | |
| [2][unbestreitbaren Verdienste] – Opfern zusätzlichen psychischen Druck | |
| aufbürdet. | |
| ## Sogar misogyne Züge | |
| Neben Spott und Ärger löst die Bewegung in der Protagonistin sogar misogyne | |
| Züge aus, wenn sie Verfasserinnen von Onlineposts als | |
| aufmerksamkeitsgierige Lügnerinnen bezichtigt. Durch die Aufmerksamkeit | |
| wird auch die sensationsgeile, an Erfolgsgeschichten interessierte Presse | |
| auf den Plan gerufen, verkörpert durch eine skrupellose Journalistin. Auch | |
| wenn Darstellungen wie letztere ein wenig pflichtbewusst anmuten, reduziert | |
| das die Komplexität von „Meine dunkle Vanessa“ keineswegs. | |
| Verstärkt wird dieser Eindruck von der vielschichtigen, lebhaften | |
| Ich-Perspektive. Sie macht den englischen Originaltext auch für Lesende | |
| ohne perfekte Sprachkenntnisse zugänglich – und verliert in der deutschen | |
| Übersetzung ein wenig Frische. So ist „Meine dunkle Vanessa“ ein absolut | |
| lesenswertes Debüt, das vor allem durch seinen schonungslosen Blick in die | |
| menschliche Psyche überzeugt. | |
| 6 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina Schantz | |
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