| # taz.de -- NSU-Serie Teil 1: Verharmlosung und Vertuschung | |
| > Seit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 2011 ihr Wohnmobil in Brand setzten, | |
| > kam vieles ans Licht. Aber längst nicht alles, was es zu erfahren gäbe. | |
| Bild: Die Tatwaffe: eine Pistole des Typs Česká CZ 83, Kaliber 7,65 mm Browni… | |
| Es gab viele Anzeichen, dass es nun bald mit der NSU-Staatsaffäre vorbei | |
| sein werde: Der zweite Untersuchungsausschuss des Bundestags zum | |
| NSU-Komplex stellt seine Arbeit nach Plan etwa im Februar 2017 ein, er wird | |
| dabei wohl die ein oder andere Konsequenz bezüglich des Verfassungsschutzes | |
| gezogen haben – und dann wird ja auch ein Urteil über Beate Zschäpe und | |
| andere in München erwartet. | |
| Man wird dann sagen: Der Rechtsstaat habe alles in allem funktioniert, ja | |
| gut, die Nebenklägerinnen und Kläger, die Opfer sind nicht | |
| zufriedengestellt, es habe zu lange gedauert, aber so ist das eben, so sind | |
| die Grenzen der Strafprozessordnung. Vor allem: Den NSU gibt es nicht mehr. | |
| Nachdem die beiden Uwes tot aufgefunden worden sind, existiert eine | |
| terroristische Vereinigung nicht mehr, denn sie besteht mindestens aus drei | |
| Personen. | |
| Diese Wahrnehmung ist verfrüht. Wie der Untersuchungsausschuss des | |
| Bundestages im Rahmen der Vernehmungen des Aktenvernichters mit dem | |
| Decknamen „Lothar Lingen“ aus der Abteilung 2 des Bundesamts für | |
| Verfassungsschutz (BfV) erst jüngst festgestellt hat, hat das BfV mit | |
| voller Absicht Akten vernichtet, um jede Spur einer Beteiligung, | |
| Mitverantwortung oder Mitschuld leugnen zu können. | |
| Auch die Bundesanwaltschaft, die Anklagebehörde im Münchener Prozess gegen | |
| Zschäpe und andere, hat bezüglich einer zentralen Figur – des „Blut und | |
| Ehre“-Aktivisten und Waffenbeschaffers Jan Werner – entscheidendes | |
| Material, ohne Einsichtnahme durch das zuständige BKA vernichtet, und das | |
| noch im Jahr 2014. Auch so ist Aufklärung ausgeschlossen. | |
| Im Frühjahr 2015 hat das Landesamt für Verfassungsschutz in Brandenburg | |
| wichtige Daten zu ihrem zentralen Spitzel Piatto, einem Schwerverbrecher | |
| und Rassisten, unter dem V-Mann-Führer und jetzigen Präsidenten des | |
| Landesamts für Verfassungsschutz in Sachsen, Gordon Meyer-Plath, | |
| vernichtet. Auch so verhindert man Aufklärung, gerade die über eigene | |
| Beteiligung. | |
| ## 90 Prozent geschwärzt | |
| „Corelli“ (Thomas Richter) schließlich war als V-Mann eine Schlüsselfigur | |
| der Neonaziszene, und aktives Ku-Klux-Klan-Mitglied. Er übergab 2005 einen | |
| Datenträger mit dem Titel NSU/NSDAP seiner eigenen „Dienststelle“ (!), dem | |
| Bundesamt für Verfassungsschutz. | |
| Angesichts des öffentlichen Aufruhrs über Leben und ungeklärten frühen Tod | |
| dieses zentralen V-Manns des BfV hatte sich das Parlament entschlossen, | |
| einen eigenen Sonderermittler, den ehemaligen Grünen-Abgeordneten Jerzy | |
| Montag, einzusetzen. Was herauskam, war ein Skandal eigener Natur: Von den | |
| über 330 Seiten des Montag-Berichts sind weniger als ein Zehntel der | |
| Öffentlichkeit übergeben worden. Entscheidende Informationen über das | |
| Verhältnis von Thomas Richter und dem NSU sind bis heute geheim. Mehr noch: | |
| Der Präsident des Verfassungsschutzes musste im Frühjahr 2016 bekennen, | |
| dass in einem Panzerschrank im Frühjahr 2016 unausgewertete Handys des | |
| Thomas Richter lagen. Der Gutachter Montag wurde hintergangen. Auch hier: | |
| Aufklärung und Information liegt dem Amt fern. | |
| Im Juni 2016 ist im Bundestag durch Zeugenaussagen aus Zwickau belegt, dass | |
| Ralf Marschner – zentrale Informationsquelle des Bundesamts für | |
| Verfassungsschutz in Zwickau – sich über Jahre mit Beate Zschäpe traf. Ralf | |
| Marschner hat zudem offenbar die beiden anderen Mitglieder des Kerntrios in | |
| seinem Abbruchunternehmen beschäftigt. Die Zuständigen im Bundesamt hatten | |
| mit Marschner jemanden unter Vertrag, der sich an der Anmietung der Autos | |
| beteiligte, die zum Zeitpunkt der Mordtaten etwa in Nürnberg identifiziert | |
| wurden. Diese Informationen waren dem Verfassungsschutz also bekannt. Es | |
| ist daher ein Überlebens-Gebot, ja existenziell für den Verfassungsschutz | |
| und die zuständigen Mitarbeiter, die Akte Marschner möglichst geschlossen | |
| zu halten. | |
| Bis heute wird erfolgreich verhindert, den im Ausland lebenden Marschner | |
| zum Gericht in München oder zum Untersuchungsausschuss in Berlin zu laden. | |
| Dies erweist sich inzwischen immer mehr als eine der größten Schwächen des | |
| zweiten Untersuchungsausschusses des Bundestags und macht ihn, wenn das | |
| nicht korrigiert wird, zum Papiertiger. Selbst ein bestehender Haftbefehl | |
| wird nicht vollstreckt. | |
| ## Antisemitische Verbrechen geplant? | |
| Seit Kurzem wird darüber hinaus durch einen Antrag des Nebenklägeranwalts | |
| Yavuz Narin vor dem Oberlandesgericht in München der Frage nachgegangen, ob | |
| im Mai 2000 die Angeklagte Zschäpe, Uwe Mundlos und der Waffenbeschaffer | |
| Jan Werner im Bereich der Berliner Synagoge Rykestraße sich an einer | |
| Ausspähaktion für mögliche Terrorziele beteiligt haben. Jan Werner wiederum | |
| hatte Kontakt mit dem Chef der Hammerskins, dem V-Mann des Bundesamts Mirko | |
| Hesse, sowie mit dem Chef von „Blut und Ehre Deutschland“, „Pinocchio“. | |
| Wenige Tage zuvor – Ende April 2000 – ist dem sächsischen Innenminister vom | |
| eigenen Verfassungsschutz mitgeteilt worden, dass das Trio „auf dem Weg in | |
| den Terror“ sei. Schon in der ersten Hälfte des Jahres 2000 waren | |
| Verfassungsschützer umfassend über das Kontaktnetz und die Ausrichtung der | |
| Aktivitäten des NSU und seines Umfelds informiert und beteiligt. | |
| DNA-Tests sollen Spuren von Uwe Böhnhardt an Stoffresten der Leiche der | |
| 2001 ermordeten 9-jährigen Peggy Knobloch ergeben haben. Falls sich die | |
| Beteiligung des NSU am Mord von Peggy bestätigen würde, dann würde das eine | |
| Dimension der Verbrechen des NSU aufzeigen, die bisher nur von einigen | |
| Anwälten der Nebenklage im Münchener NSU-Prozess begründet vermutet worden | |
| ist. Es würde mitten in ein nur ansatzweise öffentlich diskutiertes | |
| Beziehungsgeflecht von rechtsterroristischen Verbrechern und Verbrechern | |
| des Drogen- und Menschenhandels der organisierten Kriminalität in mehreren | |
| Ländern der Bundesrepublik Deutschland führen. Dieses Geflecht ist mit dem | |
| Tod der beiden Uwes nicht erloschen. Der ehemalige V-Mann und Organisator | |
| des gewalttätigen „Thüringer Heimatschutzes“, Tino Brandt, ist wegen | |
| Kinderprostitution und sexuellen Missbrauchs Minderjähriger in 66 Fällen | |
| irritierend spät vor Gericht gekommen und verurteilt worden. Es gibt bis | |
| heute rechtsterroristisch organisierte Kriminalitätsnetze, die es | |
| aufzudecken und zu zerschlagen gilt. | |
| Weiterhin: Es ist bekannt, dass es aus dem Umfeld des verstorbenen Uwe | |
| Böhnhardt einen Tatverdächtigen gibt, der womöglich für den Tod des 1993 | |
| bei Jena aufgefundenen 9-jährigen Bernd Beckmann verantwortlich ist. Auch | |
| hier hält sich der Verfassungsschutz zurück, wo man doch – laut | |
| ARD-Dokumentation – Tino Brandt noch kinderpornografisches Material auf | |
| Anforderung besorgt hat. | |
| ## Beihilfe zu schweren Verbrechen und Mord | |
| Der erste Thüringer Untersuchungsausschuss hat nachgewiesen, dass der | |
| Verfassungsschutz in Thüringen – mit dem zentralen V-Mann Tino Brandt – | |
| selbst den neonazistischen „Thüringer Heimatschutz“ am Rechtsstaat vorbei | |
| systematisch gestärkt hat. Briefe des Bundeskriminalamts haben vor dem | |
| „Brandstifter-Effekt“ von V-Leuten der Verfassungsschützer gewarnt. Ohne | |
| Erfolg. Stattdessen ist dieses V-Mann-Unwesen noch ausgedehnt worden. Ein | |
| Teil der Verfassungsschützer hat mit für die Radikalisierung und das | |
| Untertauchen der NSU-Mord-Gruppe gesorgt. Einmal aus dem Ruder gelaufen | |
| liegt es im Interesse des Selbsterhalts solcher Institutionen und der | |
| besonders beteiligten Personen, nicht belangt zu werden – wegen | |
| Strafvereitelung im Amt oder wegen Beihilfe zu schweren Verbrechen und | |
| Mord. Der Legitimation, Effizienz und Glaubwürdigkeit der | |
| Sicherheitsbehörden dient dies aber nicht, es schwächt sie bis hin zu | |
| völligem Misstrauen in großen Teilen der Öffentlichkeit. | |
| Verharmlosung, Verschweigen und Vertuschung haben der Sicherheit aller den | |
| staatlichen Behörden anvertrauten Menschen in der Phase des NSU schwersten | |
| Schaden zugefügt. Die Tatsache, dass weiter vertuscht wird, fügt der | |
| Sicherheit der den Institutionen Anvertrauten weiter Schaden zu. Dies gilt | |
| erst recht für die, die besonderen Schutz brauchen: die heute von | |
| Rechtsterroristen, Rechtsextremisten oder Rechtspopulisten Bedrohten und | |
| Angegriffenen: Migranten, Juden, Politiker, Flüchtlingshelfer – und Kinder. | |
| Es ist daher die Vertiefung und Ausweitung des NSU-Skandals selbst, die | |
| Gesellschaft und Politik noch einmal die Chance bietet, die Lehren aus | |
| Rassismus und organisiertem Verbrechen zu ziehen: Gegenüber dem Bundesamt | |
| für Verfassungsschutz bedarf es unabhängiger interner Ermittlungen und der | |
| Prüfung von Anzeigen gegen einzelne wegen Strafvereitelung im Amt sowie | |
| Beihilfe zum Mord. | |
| Es müssen – um den gegenwärtigen Beauftragten für die Nachrichtendienste | |
| des Bundes, Klaus-Dieter Fritsche, in seiner wütenden Widerrede gegen den | |
| Aufklärungsdruck des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags vom | |
| 18. Oktober 2012 zu variieren – eben genau alle die „Staatsgeheimnisse | |
| bekannt werden“, die ein Regierungshandeln zur Sicherung der Unversehrtheit | |
| und Menschenwürde der ihnen Anvertrauten garantieren und nicht weiter | |
| „unterminieren“. | |
| Wir alle müssen – um die Bundeskanzlerin in ihrem Versprechen vom 23. | |
| Februar 2012 gegenüber den Hinterbliebenen der Opfer zu zitieren – uns | |
| selbst versprechen, „alles zu tun, um die Morde aufzuklären, die | |
| Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken sowie alle Täter ihrer gerechten | |
| Strafe zuzuführen“. Daran müssen wir – Zivilgesellschaft, Medien, Politik | |
| und dann wohl auch endlich die zuständigen Behörden – „in Bund und Lände… | |
| mit Hochdruck arbeiten“. | |
| 30 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Hajo Funke | |
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