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# taz.de -- NSU-Serie Teil 4: Der Mord in Heilbronn
> 2007 wird in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen und
> ihr Kollege schwer verletzt. Bis heute sind die Umstände unklar.
Bild: Bei der Beerdigung der im April 2007 erschossenen Polizistin Michèle Kie…
Am 25. April 2007 fahren Michèle Kiesewetter und Martin A. in Heilbronn
Streife. Nach einer Einsatzbesprechung machen sie eine Pause auf der
Theresienwiese, in der Nähe des Neckars. Sie parken ihren 5er BMW um circa
13.55 Uhr neben einem stillgelegten Wasserpumphäuschen, essen und rauchen
am offenen Autofenster.
Drei Minuten später wird beiden in den Kopf geschossen. Der Tatablauf laut
LKA: Die TäterInnen haben sich „unter Ausnutzung des Überraschungsmoments“
von hinten dem Auto genähert und in „zeitlich dichter Abfolge“ jeweils
einen Kopfschuss abgefeuert. Die TäterInnen nehmen Dienstwaffen,
Handschellen und Tränengas von Kiesewetter und A. mit.
Beim Abnehmen der Gegenstände müssen die TäterInnen mit dem Blut ihrer
Opfer in Kontakt gekommen sein. Anschließend fliehen sie. Kiesewetter ist
sofort tot. A. ist schwer verletzt. Schon kurz danach setzt die
Polizeizentrale Heilbronn den ersten Funkspruch ab. Polizisten treffen am
Tatort ein.
Der Tatort ist nicht ordnungsgemäß abgesperrt, zeitweise halten sich dort
mehr als 100 Beamte auf. Hinzu kommen Presse, Trauernde und Schaulustige.
Der Rettungshubschrauber landet und startet in Tatortnähe. A. überlebt
schwer verletzt. Er kann sich bis heute nicht an den Tatvorgang erinnern.
## Ermittlungsversäumnisse
Die Mordermittlungen liefen außerordentlich schlampig. Einige der
Ermittlungspannen: Zunächst fahndet die Staatsanwaltschaft nach dem
„Heilbronner Phantom“, einer Frau, deren DNA seit 2001 europaweit bei über
zwei Dutzend Verbrechen festgestellt wurde. Nach zwei Jahren ergebnisloser
Ermittlungen stellt sich heraus, dass die DNA einer unbeteiligten
Fabrikarbeiterin gehört. Sie hatte Wattestäbchen verpackt, die bei der
Spurensicherung benutzt wurden.
Das Umfeld von Kiesewetter haben die Ermittler der Kripo Heilbronn nie
näher beleuchtet: Weder Kollegen noch Vorgesetzte von Kiesewetter wurden
systematisch vernommen. Das, was man ohne Rücksicht auf die Trauer der
Angehörigen der Mordopfer der Česká-Mordserie gemacht hatte, versäumte man
bei Kiesewetter. Unaufgeklärte Widersprüche im Fall Kiesewetter füllen die
Abschlussberichte der Untersuchungsausschüsse zu Hunderten Seiten.
## Geheimdienst
Am Tattag waren sowohl ein Master Sergeant der US-Militärpolizei als auch
ein Verfassungsschützer in Heilbronn. Nach neueren Recherchen scheint
wahrscheinlich: Das war wohl eher Zufall.
## Motiv
Es gibt erhebliche Unterschiede zu den übrigen NSU-Morden: Die Opferauswahl
fand nicht anhand zugeschriebener rassistischer Kriterien statt. Zwar
passen RepräsentantInnen der Staatsgewalt ebenso ins Opferschema
rassistischer Ideologie, aber anders als bei den anderen Morden raubten die
TäterInnen Dienstwaffen und Gegenstände. Laut Zschäpes Aussage vor Gericht,
die auch die 2-Täter-These stützte, war Waffenbeschaffung auch das Motiv
für den Mord. Jedoch war die Tat nach allem, was man weiß, der letzte Mord
des NSU.
## Zwei oder mehr Täter?
Während die Bundesanwaltschaft bis heute davon ausgeht, dass Mundlos und
Böhnhardt die Tat allein begingen, hielten die Ermittler des LKA es 2009
für plausibel, dass vier bis sechs Personen an dem Mord beteiligt waren.
Dafür sprechen mehrere Zeugenaussagen:
Nördlich und westlich der Theresienwiese haben ein Radfahrer und eine Frau
unabhängig voneinander zwischen 14 und 14.30 Uhr zwei blutverschmierte
Männer gesehen. Einer wusch sich die Hände im Neckar und war in Begleitung
von einem Mann und einer Frau. Südlich der Theresienwiese hat ein Paar
einen blutverschmierten Mann gesehen, der wegrannte und sich mehrfach nach
dem Polizeihubschrauber umblickte.
Ein anderer Mann hat beobachtet, wie ein Mann mit blutverschmiertem Arm in
ein Auto hechtet. Alle ZeugInnen werden von den Ermittlern als
„glaubwürdig“ eingestuft, einer ist V-Person der Polizei. Die
Phantombilder, die anhand der Aussagen erstellt wurden, ähneln weder
Mundlos noch Böhnhardt. Von keinem der beiden fand man am Tatort DNA, dafür
jedoch am Rücken des schwer verletzten Martin A. die DNA einer unbekannten
Person.
Zudem ergibt die operative Fallanalyse, dass zwei Rechtshänder schossen.
Böhnhardt war Linkshänder.
Die Bundesanwaltschaft argumentiert, dass das Kennzeichen des Wohnmobils
des Trios in der Ringfahndung circa eine halbe Stunde nach der Tat
außerhalb von Heilbronn notiert wurde. Außerdem fanden Ermittler in dem
ausgebrannten Wohnmobil von Eisenach die den Opfern entwendeten
Dienstwaffen. In der ausgebrannten Zwickauer Wohnung des Kerntrios fanden
Ermittler die Tatwaffen und eine Jogginghose mit Spuren von Böhnhardt und
Mundlos sowie einem Blutspritzer, der laut DNA-Test von Kiesewetter stammt.
Der NSU hatte sich außerdem in einem Bekennervideo der Tat gerühmt.
## Zufallsopfer?
Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass Kiesewetter ein Zufallsopfer
war. Dagegen spricht jedoch vieles: Kiesewetter hat in der Tatwoche
eigentlich Urlaub, Kollegen sagen, sie sei für jemanden eingesprungen. Laut
Aussagen willigt sie am 19. April ein, den Dienst in Heilbronn zu
übernehmen. Am selben Tag ruft Uwe Böhnhardt bei seiner Mietwagenfirma an
und verlängert die Ausleihe des Wohnmobils. Bei den vorherigen Morden
mietete das Kerntrio den Camper relativ genau um den Tatzeitpunkt herum.
Michèle Kiesewetter kam wie Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos aus Thüringen.
Ihr Heimatort Oberweißbach ist nur 30 Kilometer von Saalfeld entfernt, wo
sich der Thüringer Heimatschutz und das Kerntrio bei regelmäßigen Treffen
radikalisierte. Kiesewetters Patenonkel Mike W., selbst Polizist beim
Staatsschutz, sagte 2007 kurz nach dem Mord aus: Er glaube, der Mord an
seiner Nichte hänge „mit den bundesweiten Türkenmorden“ zusammen – wegen
der ähnlichen Tatwaffen, die er aus den Medien kenne. Später behauptete er,
er sei durch eine Unterhaltung mit einem Ermittler darauf gekommen. Das
Problem: Beim Kiesewetter-Mord wurden tatsächlich andere Waffen benutzt als
bei den restlichen neun Morden.
Kiesewetter machte einige Jahre vor ihrer Ermordung Urlaub in Ungarn mit
ihrem Patenonkel und dessen damaliger Lebensgefährtin Anja W., ebenfalls
Polizistin. 2007 trennte sich Anja W. von Kiesewetters Patenonkel. Sie
hatte sich während verdeckter Ermittlungen in Ralf Wi., den Chef einer
Sicherheitsfirma, verliebt. Sie sind bis heute verheiratet.
Ihr neuer Mann beschäftigt auch Neonazis und kannte, angeblich flüchtig,
Böhnhardt. Vom Polizeidienst wurde Anja W. zwischenzeitlich suspendiert,
weil sie verdächtigt wurde, Ermittlungsergebnisse an rechte Kreise
weiterzuleiten – sie hatte sich Zugriff auf verschiedene Fällen verschafft,
in denen es um Ermittlungen gegen die extreme Rechte in Thüringen ging.
Kiesewetter hatte weitere Verbindungen zur extremen Rechten: Die „European
White Knights“ des „Ku-Klux-Klan“ haben in Schwäbisch Hall ihr Zentrum,
rund 50 Kilometer entfernt von Heilbronn. Zwei Kollegen aus Kiesewetters
Einheit ließen sich 2001 bei Blutritualen in dem rassistischen Geheimbund
zu Rittern schlagen. Privat trugen Kollegen „Thor Steinar“-Klamotten,
einige ließen sich kollektiv Glatzen schneiden. Kiesewetter selbst war nach
dem, was bekannt ist, nie Mitglied in rechten Organisationen.
3 Nov 2016
## AUTOREN
Gareth Joswig
## TAGS
Schwerpunkt Rechter Terror
Beate Zschäpe
Michele Kiesewetter
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Uwe Mundlos
Uwe Böhnhardt
Mode
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Lesestück Recherche und Reportage
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Rechtsextremismus
Mordfall Peggy K.
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