# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Die Mitte als Wille und Vortäuschung | |
> Sie gilt als staatstragende Schicht, der alle Sorge gilt. Doch ihr | |
> Begriff ist unscharf, moralisch aufgeladen und verschleiert das | |
> Klassenverhältnis. | |
Bild: Ist das hier schon die Mitte oder noch die Arbeiterklasse? | |
Das Unternehmen Renault steht mit allen vier Rädern in der Wirklichkeit. Im | |
Espace, dem Großraumgefährt für die Familie gehobenen Einkommens, ist auf | |
dem Display die Türverriegelung von innen als „Ghetto-Schaltung“ angezeigt. | |
Das Versprechen, das Wageninnere gegen das gefährliche Außen zu schützen, | |
greift nicht nur vermeintliche Stimmungen und Bedürfnisse der Käufer auf, | |
es ist selbst ein Signal dieser Ängste und verweist auf deren Ursprung. | |
Auch in den Medien wächst die Sorge über den „gesellschaftlichen | |
Zusammenhalt“. Von sozialer Ungleichheit, ja Spaltung der Gesellschaft ist | |
die Rede. Am höchsten steigt der öffentliche Erregungspegel jedoch beim | |
Blick auf die „Mitte der Gesellschaft“. Sobald neue sozialstatistische | |
Befunde und Umfragewerte heraus sind, wird geprüft, ob diese schrumpft oder | |
geschwächt ist und wie es sonst um sie steht. | |
Der maßgebliche Gesellschaftsdeuter Herfried Münkler beschwört das | |
gesellschaftliche Leitbild von „Mitte und Maß“ und warnt vor den Folgen | |
eines „sozio-politischen Scheiterns an den Aufgaben der Mitte“. In der | |
Schweiz gibt ein eidgenössisches Bundesamt zu bedenken, „dass der mittleren | |
Einkommensgruppe eine staatstragende Funktion zugeschrieben und eine | |
Schwächung dieser Schicht als Gefahr für den sozialen Frieden und Wohlstand | |
des Landes aufgefasst wird.“ | |
Dass die öffentliche Aufmerksamkeit so einseitig der Mitte gilt, hat einen | |
banalen Grund: Die Unschärfe des Begriffs macht ihn vielseitig verwendbar. | |
Die Mitte ist im öffentlichen Resonanzraum allseits beliebt: In den Medien, | |
weil jeder Mensch irgendwie hofft, er könnte, wenn alles gut geht, | |
dazugehören. Bei den Politikern, die sich mit marktverträglichen | |
Erzählungen vom Gemeinwohl profilieren, dessen moralische Heimat | |
bekanntlich die Mitte ist. Wenn Kanzlerin Merkel in der CDU-Zentrale vor | |
die Presse tritt, prangt über ihr das Logo: DIE MITTE. Sie ist die | |
leistungsbereite, den Extremen abgeneigte Schicht, die auch noch die | |
Gesellschaft zusammenhält. | |
## Fleiß und Bescheidenheit | |
Die ideologische Bindekraft des Markenzeichens ist kaum zu überschätzen. Es | |
verheißt „denen da unten“, man könne es mit Fleiß und Aufstiegswillen zu | |
etwas bringen. Und es mahnt „die ganz oben“ zu maßvollem Genuss des | |
Reichtums und gelegentlichen Spenden fürs gemeine Wohl. Die Mitte ist immer | |
auch moralisch gedacht: Wir sind die Guten. | |
Eingeführt, um die ungeliebte „Unterschicht“ auf Abstand zu halten, hat | |
sich die Mitte auf wundersame Weise ausgedehnt, sodass die Gesellschaft in | |
ihr fast aufgeht – bis auf zwei Restposten: Elite oben, Arme unten. Erst | |
seit die Folgen der Finanzkrise auch Menschen in „mittleren Verhältnissen“ | |
treffen, tobt der Überbietungswettbewerb der Sorge: um die schrumpfende | |
Mitte, den gebeutelten Mittelstand, die gefährdete Mitte. Die Attribute | |
reichen von bewegt, nervös über alarmiert bis enthemmt. Die Mitte ist von | |
Ausplünderung, ja Verwahrlosung bedroht, es herrschen Statusangst, | |
Verdruss, Verbitterung und große Panik. | |
Ob das alles zutrifft, auf wen und in welchem Maße, ist empirisch strittig. | |
Davon unbeirrt halten Medien und Politik einen scheinradikalen Diskurs in | |
Gang, den Jürgen Kaube in der FAZ als „inszenierte Mittelstandspanik“ | |
verspottet. Der dramatische Ton soll die Leser bewegen, sich über das Los | |
in der Mitte weit mehr Sorgen zu machen als über Menschen, die wirklich arm | |
oder von Unsicherheit bedroht sind. Ob schrumpfend, gespalten oder nervös: | |
Die Mitte der Gesellschaft erscheint wichtiger als das Ganze. | |
Warum sorgen sich die Medien und die Sozialforscher, wenn sie die neuesten | |
Befunde zur Ungleichheit vorstellen, vor allem um die Mitte? Während in | |
Frankreich soziale Exklusion ein kritischer Begriff und in Großbritannien | |
wie selbstverständlich von der underclass die Rede ist, halten sich im | |
deutschen und schweizerischen Sprachgebrauch die Mittelschicht und der | |
Mittelstand besonders hartnäckig, als könnten die Begriffe selbst das Ende | |
der Klassengesellschaft besiegeln. | |
## Getrennt von der Unterschicht | |
Die meisten Sozialforscher siedeln die Mittelschicht einvernehmlich in der | |
Spanne zwischen 70 und 150 (oder auch 200) Prozent des Medianeinkommens an. | |
Zwar berücksichtigen die Befunde auch Qualifikation und Berufsstatus, aber | |
die für die gesellschaftliche Position maßgebliche Frage, ob man abhängig | |
beschäftigt oder selbstständig (und nicht nur scheinselbstständig) ist, | |
bleibt sozialstatistisch ungeklärt. So kommt es, dass die „untere“ und | |
„mittlere Mittelschicht“ zwar mehrheitlich aus abhängig Beschäftigten | |
besteht, aber getrennt von den arbeitenden und arbeitslosen Unterschichten | |
geführt wird. | |
Die Lohnabhängigkeit als übergreifendes Klassenmerkmal hat offenbar | |
ausgedient. Die Forschung nutzt die Kriterien des Einkommens und der | |
beruflichen Qualifikation für immer feinere Abstufungen in der Mitte und | |
löst mit diesen „Fakten“ die Gemeinsamkeit der Lohnabhängigen auf. Sie | |
schottet die Restklasse der Armen und Abgehängten nach oben gegen eine | |
breite Mittelschicht ab, nach der die Gesellschaft insgesamt benannt wird. | |
In diesem „Kapitalismus der Mitte“ bilden Facharbeiter und Angestellte, | |
zusammen mit Selbstständigen und Kleinunternehmern, ein Justemilieu | |
moderner Art. Als Kitt, der es zusammenhält, galt früher die | |
„kleinbürgerliche Lebensführung“ mit ihren Sicherheiten, die stets mehr | |
Sehnsucht als Realität war. Das Leitbild besagt, dass die Mittelschichten | |
„sich mit ihrem selbst verdienten Geld gut kleiden und gesund ernähren, die | |
Kinder – zumindest finanziell – umsorgen, sich ein eigenes Auto und unter | |
Umständen eines Tages das eigene Haus oder die eigene Wohnung leisten | |
können, ohne auf die Hilfe des Sozialstaats angewiesen zu sein“. Dahinter | |
steht die Botschaft: Diese Mitte soll dem Staat möglichst wenig auf der | |
Tasche liegen. | |
Die dazu passenden Tugenden hat das Ehepaar Münkler benannt. Ihre | |
„Identitätsmarker“ atmen den marktgerechten Geist von Mitte und Maß: Auf | |
die „Bereitschaft zur Selbstsorge“ komme es an, auf den „Leistungswillen … | |
Bezug auf die Gesellschaft“ und auf die Überzeugung, dass man „durch eigene | |
Anstrengungen einen gewissen Aufstieg erreichen kann“. Vom Proletariat | |
bleibt eine „Unterschicht“ aus Unqualifizierten und Unflexiblen, gestempelt | |
zum Objekt der Fürsorge und des Forderns ohne Fördern. Statt des | |
Gegensatzes Arbeit/Kapital gibt es nur noch die Mentalitätskluft zwischen | |
Antriebsschwachen und Leistungsstarken. Die Mittelschicht wird zum | |
Kronzeugen für die motivierende Kraft der Ungleichheit: Die anderen sind | |
selber schuld. | |
## Die soziale Klasse verdrängt | |
Mittlerweile hat der Begriff „Mitte“ den der sozialen Klasse in der | |
Alltagssprache verdrängt. Wer nach Klassenverhältnissen nicht fragt, erhält | |
keine lästigen Antworten: „Bitten Soziologen die Menschen, sich selbst | |
einzuordnen, so zeigen sich immer wieder die Sehnsucht nach einer | |
Positionierung in der Mitte und eine Ablehnung der Extreme.“ Dass der | |
Tonfall der Frage die halbe Musik macht, ist in Vergessenheit geraten. Der | |
demoskopische Betrieb umsorgt die Mittelschicht so lange, bis sich ihr nach | |
der neuesten Studie 71 Prozent der Deutschen zurechnen – mehr als die | |
Sozialstatistik ausweist, die von knapp 60 Prozent ausgeht. | |
Erst seitdem neue soziale Spaltungen drohen und die Angst auch in der Mitte | |
der Gesellschaft angekommen ist, läuten die Alarmglocken. Die | |
übergreifenden Folgeschäden rücken erst ins Blickfeld, wenn sich die | |
Legitimationsprobleme des demokratischen Kapitalismus in der Mitte | |
verschärfen. Und während man auf der Verteilungsebene die Einkommensmitte | |
samt ihrem Angstpegel penibel vermisst, bleiben die kapitalistischen | |
Produktionsformen der Ungleichheit und die Klassengesellschaft weitgehend | |
im Dunkeln. | |
Siegfried Kracauer meinte über jene aus Wissenschaft und Feuilleton, die | |
das Bestehende nur in moderner Form bewahren wollen: „Seine Wächter wären | |
in diesem Fall Schlafmützen und ihre Synthesen selber Ideologien.“ Die | |
Schlafmützigkeit der soziologischen und politischen Diagnose zeigt sich | |
heute darin, dass eine überzeugende Analyse über die Nähe von Klassen und | |
Schichten zur AfD nicht vorliegt. An der Studie „Enthemmte Mitte“ ist schon | |
der Titel irreführend. Er spiegelt die Ratlosigkeit vieler Mitte-Denker, | |
denen die Bataillone weglaufen, aus Gründen und in Richtungen, die sie | |
nicht genau kennen, aber fürchten. | |
## Den Kapitalismus das Fürchten lehren | |
Ratlos ist auch die Politik. Ein sozialdemokratisches Debattenorgan | |
porträtiert die Mitte als „die Menschen, die das Land in Gang halten“. Von | |
den sieben Gewährsleuten dieser „Mitte“ sind fünf, also gut 70 Prozent, | |
Selbstständige oder leitende Manager; ihr Anteil an allen Erwerbstätigen | |
beträgt etwa 15 Prozent. Gewollt oder ungewollt sendet die einstige | |
Arbeiterpartei der Mehrheit der abhängig beschäftigten Menschen die | |
Botschaft: Ihr haltet das Land nicht einmal in Gang. Um die Gunst einer bis | |
zu den Selbständigen ausgewalzten Mitte muss sich die SPD mit den Grünen | |
streiten – und mit der FDP der notorisch Besserverdienenden. | |
Es könnte sein, dass auch der gegenwärtige Kapitalismus die Gegenkräfte | |
hervorbringt, die ihn das Fürchten lehren. Wenig zu fürchten hat die | |
diskrete Elite samt ihrem Service- und Beraterpersonal, solange es ihr | |
gelingt, der angestellten Krankenpflegerin wie dem tariflosen Cloudworker | |
ein Mitte-Dabeisein vorzuspiegeln und die Lehrerfamilie mit Eigenheim für | |
das Steuervermeidungsinteresse der Plutokraten einzuspannen. Auf die | |
Selbsttäuschung dieser Mitte kann die Machtelite zumindest so lange zählen, | |
wie ihr auf dem Feld der Begriffspolitik die Betreiber der | |
Ungleichheitsforschung und der Themensalons zur Hand gehen. | |
21 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Ulf Kadritzke | |
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