# taz.de -- Kunstschau in Wolfsburg: Fragile Freiheiten | |
> Die Grenzen sexueller, künstlerischer und individueller Freiheit will das | |
> Kunstmuseum Wolfsburg ausloten – „Im Käfig der Freiheit“. | |
Bild: Soll die Grenzen der Kunstfreiheit ausloten: Ausstellung im Wolfsburger K… | |
BRAUNSCHWEIG taz | Warum lernen Kinder eigentlich sprechen, lesen und | |
schreiben, wenn sie später doch nicht sagen dürfen, was sie wollen? Diese | |
Frage habe ihm kürzlich eine seiner Töchter gestellt, erzählt Ralf Beil, | |
Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg. Wie der Versuch, darauf eine Antwort | |
zu geben, thematisiert nun seine neue Ausstellung im Hause die, ja: ständig | |
zu verhandelnde Utopie der Freiheit und die vielen, uns teilweise gar nicht | |
bewussten, tagtäglichen Restriktionen. [1][Wir alle leben „Im Käfig der | |
Freiheit“,] so Ausstellungstitel und interpretierender Tenor der gezeigten | |
Artefakte. | |
Als, wenn man so will, materieller Freiheitseinschränkung bedient sich Beil | |
ausschließlich Werken der Wolfsburger Sammlung. Das mag thematisch etwas | |
hergeholt erscheinen, allerdings hat der Fundus unter seiner nicht einmal | |
zweijährigen Ägide einen rasanten Zuwachs, nachgerade einen | |
Befreiungsschlag, erlebt. Die längere Vernachlässigung der musealen | |
Kernaufgabe des Sammelns, auch wegen anderer Prioritäten seines Vorgängers, | |
scheint überwunden. Besonders die Sympathien ausgestellter Künstler zum | |
Hause erweisen sich nun als fruchtbar. | |
Ein Berliner Sammler etwa hat auf Vermittlung durch den Dänen Jeppe Hein – | |
er hatte um den Jahreswechsel die große Wolfsburger Halle mit vielen | |
bunten, neuen Arbeiten bespielt – dem Museum einige seiner Stücke | |
übereignet oder als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt. Eine Berliner | |
Galeristin folgte, Künstler haben Werke geschenkt, sodass unter den zwanzig | |
in der Ausstellung vertretenen nun zehn Neuzugänge sind, insgesamt wartet | |
die Schau mit rund 115 Werken auf. | |
Natürlich ist es schwierig, viele der Exponate, die man auch schon in | |
anderen Kontexten gesehen hat, nun auf einen freiheitsthematischen Gehalt | |
hin abzuklopfen. Der riesige Bär von Jeff Koons etwa, der mit seiner Linken | |
einen recht hilflosen Polizisten im liebevollen Gewahrsam hält, spielt mit | |
dem Überraschungsmoment des scheinbar Freundlichen oder Banalen, das | |
unvermittelt seine böse und gefährliche Macht auszuspielen vermag. | |
Vorrangig erschauert der Betrachter aber bereits vor der überwältigenden | |
Präsenz der tatsächlich in Oberammergau gefertigten kitschigen | |
Herrgottsschnitzerei. Die Bilderzählung scheint dann nachgeordnet, eine | |
politische Metaphorik nimmt man Koons ohnehin nicht so recht ab. | |
Die in Wolfsburg immer mal wieder gezeigte Fotoserie von Nobuyoshi Araki, | |
„Tokyo Novelle“, lässt sich da schon augenscheinlicher im Thema verorten. | |
Neben klaustrophober städtischer Infrastruktur sind es seine provokanten | |
Aktaufnahmen mit Formen gewalttätiger körperlicher Einschränkung. Die | |
mehrlagig verschränkten Autobahnbrücken wollen so gar nicht von befreiender | |
Stadtluft künden. | |
Allerdings ist das vor der Kamera praktizierte Bondage, eine auch alte | |
japanische Kampf-, Folter- oder Theatertechniken vereinigende kunstvolle | |
Fesselung, für die weiblichen Protagonistinnen wohl nicht die erniedrigende | |
sexuelle und voyeuristische Ausbeutung, die Alice Schwarzer den erstmals | |
1995 veröffentlichten Fotos attestierte. Sie sind vielmehr Zeugnisse eines | |
schmalen Grades ausgelebter sexueller Devianz, die Paradoxie gewollter | |
schmerzvoller Freiheitsberaubung im Dienste eines selbstbestimmten Lust- | |
und Entgrenzungserlebnisses. | |
Die brillante, nach üblichen Moralvorstellungen jedoch vollkommen | |
inkorrekte Bildästhetik wird durch die Kombination mit Jeppe Heins | |
unsichtbarem Kubus nun zur fast unausweichlichen Tyrannei: Ein | |
Überwachungssystem löst scharfe Alarmsignale aus, wenn sich der Betrachter | |
zu weit von den Fotografien entfernt. Die museale Kontrolltechnik, die | |
normalerweise ja Besucher auf sichere Distanz zu den empfindlichen Werken | |
hält, wird ins Gegenteil verkehrt. Die Institution Museum entblößt so nicht | |
nur ihren Anspruch auf Deutungshoheit, sondern wird zur autoritären | |
Disziplinierungsmacht. | |
Aber es gibt auch Spielerisches und Humorvolles zu sehen. So seziert der | |
Schweizer Daniel Pflumm in seinem Video unsere omnipräsente Konsumwelt. | |
Banale Produkte wie Zahnpasta, Haushaltsreiniger oder Deo können nur noch | |
mit einem Neuigkeitsaspekt marktstrategisch punkten. | |
Folglich nennt er alle seine ikonischen Waren „Neu“, auch die ihn | |
vertretende Galerie. Kein Aufbegehren gegen einen gängelnden Konsumterror | |
also, genauso wenig wie Georg Herold in seiner „Badezimmer-Serie“ die | |
subversive Qualität des Rauchens predigen möchte. | |
Seine Bildnisse zeigen vielleicht schon vom Karzinom deformierte | |
Lungenflügel. Die sind mit preiswertem Ersatz-Kaviar veredelt – eine | |
Anspielung eines aus der DDR freigekauften, dort inhaftierten Künstlers auf | |
die Verheißungen, aber auch billigen Surrogate einer westlichen | |
Wahlfreiheit. Hammer und Sichel, Insignien sozialistischer Staaten, | |
assoziiert wohl nicht nur Herold schon lange nicht mehr mit Freiheit und | |
Selbstbestimmung. | |
Im Jahr der deutschen Wiedervereinigung legte er sie aus simplen Ziegeln | |
auf rotem Samt aus, der leicht gelb-goldene Ton der Steine mag als | |
sentimentale Reminiszenz die gescheiterte Hoffnung auf eine bessere Welt | |
aufflackern lassen. | |
Den Reigen vieler weiterer leiser Töne bricht die monströse | |
Versuchsanordnung „A Hundred Years“ von Damien Hirst. Frisch geschlüpfte | |
Stubenfliegen haben die Wahl, entweder in einem großen Glaskubus auf ihren | |
natürlichen Tod in etwa vier Wochen zu warten, bis dahin stoisch | |
herumzuschwirren und sich zu ernähren – oder sie entweichen durch zwei | |
kleine Öffnungen in den benachbarten Kubus. Dorthin lockt sie eine helle | |
elektrische Fliegenfalle, mit dem Risiko des früheren Todes. | |
Gibt es also keine Freiheit? Zumindest ist sie ein relatives und fragiles | |
Privileg, dessen man sich bewusst sein sollte, auch in satten Zeiten und | |
stabilen demokratischen Systemen. Und sie lebt nur als humanistischer | |
Imperativ, die Grenzen universeller Freiheitsrechte immer neu auszutarieren | |
und wenn nötig zu erweitern – als mündiger Mensch, sprechend, lesend, | |
schreibend. | |
21 Oct 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.kunstmuseum-wolfsburg.de/ausstellungen/im-kaefig-der-freiheit/ | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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