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# taz.de -- Kunst und Sex in Wolfsburg: Die pornografische Gesellschaft
> Der Kunstverein Wolfsburg widmet sein diesjähriges Programm aktuellen
> Auftrittsformen von Sexualität in der digitalisierten Kultur.
Bild: In der Kunstgeschichte allgegenwärtig, nur manchmal subtiler als heute: …
Wolfsburg taz | Sexuelle Konnotationen, der – mal partiell, mal komplett
entblößte – weibliche Körper sind in der Kunstgeschichte und ihrer
Bildproduktion allgegenwärtig. Allerdings zog die Kunst vergangener
Jahrhunderte noch enge Schamgrenzen, versuchte, einen offenen Voyeurismus
im weiblichen Akt mit religiösen oder historischen Sujets zu legitimieren.
Dabei entfalteten sich Bildgeschichten vielfältiger Lesart, etwa in den
zahllosen Interpretationen der „Susanna im Bade“ nach den apokryphen
Schriften der hebräischen Bibel.
Sie wird als verführerisches Weib, aber auch als physisch bedrängtes Opfer
zweier infamer Männer und ihrer Verleumdungen inszeniert. Immer sorgte
szenisch üppiges Beiwerk für Widersprüchliches, Unerklärliches oder
Geheimnisvolles, für die sensitive, erotische Aufladung der körperlichen
Konkretisierung, jenseits einer reinen Fleischbeschau. Diese metaphorische
Wirklichkeitsüberhöhung scheint mittlerweile verloren, unsere westliche
Kultur dem Furor der Transparenz erlegen: alles Uneindeutige macht
misstrauisch, jedes Geheimnis ist verdächtig.
Die Kehrseite dieser völligen Offenbarung ist die Pornografisierung aller
Lebensbereiche – so sieht es der Kulturphilosoph Byung-Chul Han –, ihr
Gebot das Enthüllen und Entblößen, auch im abstrakten Sinne. Die offensive
Selbstperformanz und permanente Eigenoptimierung wurden Zwangsfaktoren im
spätkapitalistischen Wirtschaftssystem, die zu Markte getragene
Persönlichkeitssphäre dient nicht erst seit der Datenpreisgabe in der
Digitalisierung einer kommerziellen Ausbeutung sondergleichen.
Der Kunstverein Wolfsburg, gesellschaftstheoretisch immer am Puls der Zeit,
widmet sein diesjähriges Programm aktuellen Auftrittsformen der Sexualität
in der digitalisierten Kultur. In einer ersten Ausstellung geht es um das
Verführen, klischeemäßig ja die weibliche Spielart sexuellen Agierens. Das
Verführen ist aber auch eine Form der Machtausübung und Herrschaft: Ein
Mensch wird dazu gebracht, eine Handlung zu vollziehen, die er
normalerweise so nicht getätigt hätte. Besonders im Marketing sind
sexualisierte Topoi, visuell wie verbal, seit Langem persuasive Mittel.
Selbst die finanzschwache Bundeshauptstadt warb ja bekanntlich mit dem
Selbstwertgefühl, sie sei zwar arm, aber sexy.
Zum historischen Einstieg ins Thema dienen dem Kunstverein Grafiken und
Objekte der Pop-Art, jener Kunstform, die erstmals den Zusammenhang von
Sexualität und Konsum ästhetisierte. Der Brite Allen Jones oder der
US-Amerikaner Mel Ramos arbeiteten mit dem vulgären Sex-Appeal des Pin-ups,
stellten den weiblichen Körper als konsumierbare Ware oder Fetisch dar.
Trotz unübersehbar ironischer Überspitzung wurden sie sowohl von
konservativer als auch feministischer Seite kritisiert.
Eine Genderdebatte in den 1990er-Jahren befragte die traditionelle
Definition sozialer wie sexueller Rollenmodelle, in aktuellen
künstlerischen Artikulationen liegen die Schwerpunkte nun nochmals gänzlich
anders, erscheinen mitunter beängstigend. Den fiktionalen Zugriff auf den
weiblichen Körper, wie ihn ja noch die figurative Pop-Art zu starken
Bildern verdichtete, hat nun die authentische, persönliche Präsenz qua
Selbstentblößung ersetzt, das Bild aus dem Schlafzimmer wandert in Echtzeit
ins Internet.
Wobei das Schlafzimmer häufig auch das Jungmädchenzimmer sein kann, wie die
pastellfarbige Webpräsenz der kanadischen Studentin und Künstlerin Carlin
Brown demonstriert: sie gibt vor rosa Kamera die perfekte Lolita. Eine
systemkritische Arbeit steuert Marko Schiefelbein bei. Die fünfteilige
Videoarbeit des ehemaligen Meisterschülers von Candice Breitz,
Kunsthochschule Braunschweig, ist einerseits das Nachstellen einer mit
eindeutigen Posen arbeitenden Jeans-Werbung aus den 1980er-Jahren. In den
Tonspuren konterkarieren jedoch Bekenntnisse von unter Kaufzwang Leidenden
das verführerische Bild. Aber bedürften die Bildstereotype nicht auch einer
visuellen Hinterfragung?
Diffus hingegen bleibt die Aussage der 8-köpfigen Künstlergruppe ACAD+C aus
Kassel. Sie inszeniert ihre sogenannte performative Agentur mit eigenem
Körperstyling zum schicken Werbetrailer, lädt anderseits ganz bieder auf
eine Tasse Kaffee bei der Betrachtung ein. Immerhin duften die Räume des
Kunstvereins nun aromatisch – und schlagen damit schon den Bogen zu einer
folgenden Ausstellung, die sich mit dem fehlenden Körpergeruch der
antitranspiranten Gesellschaft beschäftigen wird.
Das Jahresprogramm endet mit einer Ausstellung, zum emanzipatorischen
Potenzial der Transgression. Im integrierten Raum für Freunde übertritt
derweil der Berliner Illustrator und Zeichner Christoph Vieweg schon mal
die Grenzen der Medien. Sein Tableau aus 364 kleinen Skizzen bildet seine
spontanen Reaktionen des vergangenen Jahres auf die tagesaktuellen
Nachrichten im Radio ab: auch sie mitunter nur eine weitere Spielart
pornografischer Aufmerksamkeitsökonomie.
22 Mar 2016
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
## TAGS
Kunstverein Wolfsburg
Kunst
Körper
Porno
Freiheit
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Hacking
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