# taz.de -- Einblicke in private Sphären: Überraschende Stabilität | |
> Im Kunstverein Wolfsburg widmen sich Elisabeth Stumpf und Bernd Rodrian | |
> auf je eigene Weise dem Vergangenen. | |
Bild: Von Bernd Rodrian im Polaroid festgehalten: Überwachungskameras im selbs… | |
„Wissen ist Lust“, so lautet das diesjährige, wie immer auch politisch | |
motivierte Jahresthema des Kunstvereins im niedersächsischen Wolfsburg. | |
Einerseits wird damit auf die Enthüllungen eines Edward Snowden angespielt | |
und die international ausgelösten Irritationen; andererseits fragt das | |
Motto auch nach dem genauen Gegenteil der Enthüllung: nach der | |
Notwendigkeit des Geheimnisses und der Privatsphäre. Denn sowohl das Wissen | |
als auch das Nicht-Wissen sind grundlegend für das menschliche | |
Zusammenleben. Die Forderung nach Transparenz nehme inzwischen totalitäre | |
Züge an, sagte der Philosoph Byung Chul Han einmal dazu, eine Form des | |
Widerstandes erkenne er im – Denken. | |
## Rituelle Objekte | |
Den Hauptraum des Wolfsburger Kunstvereins erfüllt derzeit eine rätselhafte | |
Welt aus bunten, archaisch anmutenden Gesichtern, schroffen | |
Landschaftsformationen und rituellen Objekten des Katholizismus. Diese | |
Installation hat die Bildhauerin Elisabeth Stumpf ersonnen, 1982 in München | |
geboren und Absolventin der Kunsthochschule Braunschweig. Sie erkundet in | |
einem ironischen Destillat ihre Prägung durch die bajuwarisch-ländlichen | |
Bräuche, mit denen sie aufgewachsen ist, und treibt deren religiösen | |
Bildkitsch auf die Spitze: mehrere Marterln, die traditionellen Bildstöcke | |
am Wegesrand, sind nun aus Faschingsflitter, Schwimmringen und Diskokugeln | |
kombiniert, Empfängerinnen der Erstkommunion auf eine heiter bis dräuende | |
Formation ihrer leblosen Kleider reduziert. | |
Persönliche Erinnerungsspuren legt auch Bernd Rodrian aus, der parallel im | |
kleinen Raum für Freunde ausstellt: Drei Überwachungskameras entdeckte er | |
einst im mittlerweile abgerissenen Wolfsburger Hertie-Kaufhaus und hielt | |
sie im Polaroid-Foto fest. Der 1966 im Saarland Geborene hat in Köln | |
Fotoingenieurwesen studiert und leitet seit 15 Jahren das Institut | |
Heidersberger auf Schloss Wolfsburg. Zuständig ist Rodrian dort für die | |
Archivierung und Erschließung des Fotografennachlasses. Er interessiert | |
sich für das künstlerische Selbstverständnis des lange in Wolfsburg | |
wirkenden Fotografen Heinrich Heidersberger (1906–2006), der in einer Zeit | |
arbeitete, als die Fotografie primär als dokumentarisches Medium galt und | |
noch nicht als Kunst. | |
In seiner eigenen ästhetischen Praxis greift Rodrian seit den 90er-Jahren | |
gerne zur Polaroid-Kamera, er besitzt drei historische Modelle der | |
Spiegelreflexvariante SX 70, hergestellt in den 1970ern. Neben dem sagen | |
wir: unterhaltsamen Gebrauch im Privaten hat das Polaroid-Verfahren stets | |
auch Künstler fasziniert. Vorreiter war Andy Warhol, der ganz bewusst die | |
breite Palette populärkultureller Gebrauchsweisen für die Kunst erschloss. | |
Aber auch Walker Evans experimentierte in seinen späten Lebensjahren mit | |
dem farbigen Bildprozess. | |
## Spontane Unikate | |
Rodrian benutzt die Polaroid-Fotografie für situative Notizen, meist auf | |
Reisen, sie liefert ihm, als Foto ohne Negativ, das spontane bildnerische | |
Unikat. Zudem fasziniert ihn die Unberechenbarkeit der Sofortbildtechnik: | |
Sie reagiere äußerst sensibel auf Licht- und Temperaturverhältnisse, | |
erzählt er, belichte gnadenlos falsch beim Blitzeinsatz oder einer | |
intensiven Farbigkeit des Motivs, produziere ansonsten, aufgrund der recht | |
langen Belichtungszeit des Materials, auch viel Verwackeltes. Und die | |
Ergebnisse seien entgegen der üblichen Auffassung durchaus lichtstabil und | |
haltbar. Rodrians eigener Fundus ist auf mittlerweile wohl 900 Fotos | |
angewachsen. Daraus hat er nun 260 ausgewählt und nach formalen Kriterien | |
zu Tableaus kombiniert. | |
Eins ist stark mit Motiven aus Wolfsburg durchsetzt, etwa | |
Architekturbildern aus Rodrians früherer Serie „Polacity“ für ein örtlic… | |
Stadtmagazin. Im gegenüberliegenden Tableau menschelt es mehr. Da sind | |
beispielsweise Einblicke in die damals schon geräumte Ostberliner Wohnung | |
der Fotografen Arno Fischer und Sybille Bergemann, die Investorendruck | |
nachgeben mussten. Auch Bergemann schätzte das Polaroid für ihre Bildessays | |
aus Träumerischem und Surrealem, schuf mit der spezifischen Ästhetik ihre | |
ganz persönliche Gegenwelt. | |
Das Malerische und eine geradezu mysteriöse Vieldeutigkeit gewähren nun | |
auch bei Rodrian Einblicke in seine private Sphäre – und lassen den | |
Betrachter teilhaben an der geheimnisvollen Kombinatorik, wenn ein | |
subjektiver Bildzugriff und ein technischer Prozess zusammenfinden zu einer | |
intuitiven Chiffrierung der eigenen Welt. | |
Bernd Rodrian, „Instant Memories – Polaroidnotizen“; Elisabeth Stumpf, | |
„Lightning Frightening“: bis 23. August, [1][Kunstverein Wolfsburg]. | |
21 Jul 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.kunstverein-wolfsburg.de | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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