| # taz.de -- Esra Oezen im Kunstverein Wolfsburg: Wo die Auskunft verweigert wird | |
| > Der Kunstverein Wolfsburg zeigt das Wechselspiel zwischen Ur- und Abbild, | |
| > zwischen analogen und digitalen Techniken der Medien- und | |
| > Kunstproduktion. | |
| Bild: Perspektivenwechsel: Auf der Fensterbank des ehemaligen Blumenladens steh… | |
| WOLFSBURG taz | Was ist das für ein Geräusch, das da zyklisch ertönt? Schon | |
| in der Kolonnade vor der City Gallery im Wolfsburger Alvar-Aalto-Kulturhaus | |
| hört man es, im Inneren des Ausstellungsraumes setzt es sich dezenter fort. | |
| Aber jeder der einmal mit Zeichnungen oder Fotos und ihrer Reproduktion zu | |
| tun gehabt hat, erkennt es natürlich: Es ist ein Flachbett-Scanner beim | |
| Einlesen des Dokuments und Generieren der Bilddaten. Und damit ist auch der | |
| große Themenbogen der türkischstämmigen Künstlerin Esra Oezen angesprochen, | |
| die den Sound installierte: Es sind die technischen, formalen und | |
| inhaltlichen Beziehungen zwischen Original und serieller Vervielfältigung. | |
| Wer nun aber reflexhaft an Walter Benjamin denkt, der 1936 über den Verlust | |
| der Aura des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit | |
| sinnierte, trifft bei Esra Oezen – ganz im Gegenteil – auf ein sehr | |
| bejahend phantasievolles und variantenreiches Wechselspiel zwischen Ur- und | |
| Abbild, zwischen analogen und digitalen Techniken der heutigen Medien- und | |
| Kunstproduktion, die beide gleichwertig erscheinen. Folgerichtig lautet der | |
| Titel ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung in Wolfsburg dann | |
| auch: Über die Einmaligkeit des Wiederholten. | |
| In Innenraum der Kunstvereins-Dependance stehen dann fünf Paar schmale, | |
| weiße Registerschränke auf der breiten Fensterbank des ehemaligen | |
| Blumenladens. Will man die Objekte und ihr Innenleben näher inspizieren, | |
| muss man also hinaufsteigen und vollzieht so physisch einen ersten | |
| Perspektivenwechsel – zur Überraschung vorbeilaufender Passanten. | |
| In jedem Schrank lagern 16 flache braune Schachteln, eine offene liegt | |
| jeweils obenauf. In den offenen ist immer ein magisch anmutender Fotoabzug | |
| zu sehen, durchnummeriert von 1 von 1 bis 1 von 10. In den Registern | |
| darunter würden folglich 2 von 1, 3 von 1, 4 von 1 und ganz zum Schluss 17 | |
| von 10 liegen. „Und 17“, sagt Esra Oezen, „ergibt als Quersumme 8. Die | |
| Ziffer, um 90 Grad gedreht, ist das Symbol für unendlich.“ | |
| Das Zählen ginge also ad infinitum, oder: solange die Datei reicht – was | |
| eine absurde Beschränkung darstellt. Das Bildmotiv, eine leere Fläche, ist | |
| die Glasplatte des Scanners. In zugespitzter Selbstreferentialität zeigt | |
| sich das beim Scanvorgang eigentlich unsichtbare Glas nun selbst, das | |
| Abbilden etwas sonst nicht Wahrgenommenen ist der eigentliche Vorgang, die | |
| These der Beweisführung. Die Nummerierung erhebt zudem jedes Blatt zu einem | |
| Unikat – in Serie. „Jede Zahl ist eine Bestimmte“, so Oezen. | |
| Doch wer ist die Person, die sich derartig Paradoxes ausdenkt und penibel | |
| in ästhetisch perfekte Objekte umsetzt? Esra Oezen kam 1986 im Wolfsburger | |
| Ortsteil Fallersleben zur Welt, ihre ganze Familie lebt in Deutschland. Sie | |
| spricht aber selbstverständlich auch türkisch, die Mutter legte darauf | |
| Wert. Auf das Abitur folgte ein Semester Betriebswirtschaftslehre, wohl | |
| noch dem Schultrott geschuldet. Dann das Studium an der Braunschweiger | |
| Kunsthochschule: Kommunikationsdesign, freie Kunst und bis 2015 ihr | |
| Meisterschuljahr bei Corinna Schnitt, die den Bereich Film und Video | |
| vertritt. | |
| Zwischendrin ein dreimonatiges Stipendium in Istanbul und ein | |
| Auslandssemester in Indonesien. Nicht nur in fremde Länder, sondern auch in | |
| viele künstlerische Disziplinen hat sich Esra Oezen somit vorgewagt. | |
| Angefangen hat sie mit der Fotografie, die sich wie ein roter Faden bis | |
| heute durch ihre Arbeit zieht. Mit einer minimalistischen Fotoserie von | |
| Migrantinnen, die sich für ein Porträt ‚schön‘ machen, gewann sie bereits | |
| 2012 den Kunstpreis Arti des Wolfsburger Kunstvereins. | |
| Neben dem Digitalen pflegt sie auch das filmgebundene Foto, hier könne sie | |
| sich besser auf die Bilder einlassen, meint Oezen. Nur verabschiedet sie | |
| sich immer weiter vom mimetischen Abbilden, einer Urqualifikation der Kunst | |
| wie Fotografie. Etwa in ihrer 60-teiligen Serie „Nachts versteck ich mich | |
| im Moskitonetz“, entstanden in Indonesien. Zurück in Deutschland, deckte | |
| sie die Bildmitte der Negative ab, ein weißes Rechteck nimmt nun fast die | |
| gesamte Fläche der kleinen Kontaktabzüge ein. | |
| „Ich möchte mich daran erinnern, was war“, so Esra Oezen. Hier geht es also | |
| um die Unwiederholbarkeit des Einmaligen, etwas auch sehr Persönliches. Die | |
| konzeptuelle Verweigerung, Einblicke in Privates zu gewähren, kommt aber | |
| nicht als provokante Geste daher, lediglich als weiterer | |
| Perspektivenwechsel, so Oezen, wie sie ihn in der Schaufensterinstallation | |
| ja bereits dem Rezipienten nahelegt. | |
| Die Fotoserie geht demnächst nach Cluj-Napoca, dem ehemaligen Klausenburg | |
| in Rumänien, ist dort ab Mitte Februar in einer Gruppenausstellung unter | |
| rumänischen Künstlern zu sehen. Der Kontakt kam über Ciprian Mureşan | |
| zustande, 2014 Gastprofessor an der HbK Braunschweig. Auch er ist ein | |
| Verfechter absurden Nihilismus, geschuldet der Unmöglichkeit, im | |
| postsozialistischen Rumänien ernsthaft Kunst betreiben und vermitteln zu | |
| können. In Wolfsburg können die Besucher neben der Ausstellung noch | |
| Lesungen verschiedener Performer aus Oezens fünfbändigem Werk „Die | |
| Gleichzeitigkeit des nacheinander Geschehenen“ in der Bibliothek des | |
| Kulturhauses verfolgen. | |
| Auch hier wird man mit multipler Auskunftsverweigerung konfrontiert, so,wie | |
| sie die eher schweigsame Esra Oezen auch als Person inkorporiert. Die | |
| Performance dauert regulär 45 Minuten, einige Zuhörer gehen aber bereits | |
| nach kurzer Zeit wieder. Am Eröffnungsabend aber war die Mehrzahl der rund | |
| 30 Zuhörer „willig“, fasst es Esra Oezen zusammen. | |
| 9 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Bettina Maria Brosowsky | |
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