# taz.de -- Pornfilmfestival 2016 in Berlin: Anarchie, Titten und große Penisse | |
> Vergewaltigungen, Aids und Sex im Alter – auch diesmal ging es beim | |
> Berlin Festival nicht nur um Genuss, sondern ebenso um Aufklärung. | |
Bild: Samantha Robinson als „Love Witch“ beugt sich über ihre nächste gro… | |
Wie haben Menschen heute Sex? Das Pornfilmfestival Berlin, das am 30. | |
Oktober im Berliner Kino Moviemento zu Ende ging, lieferte hierzu | |
vielfältigste Antworten. Seit inzwischen elf Jahren bietet es ein Forum, um | |
die schier grenzenlosen Formen von Sexualität mittels Filmen zu erkunden. | |
Gewisse Erwartungshaltungen, die der Name des Festivals erwecken könnte, | |
enttäuscht das KuratorInnenteam um die Verlegerin Manuela Kay und den | |
Filmproduzenten Jürgen Brüning nur allzu gern. Lieber stellen sie für den | |
Begriff „Porno“ neue filmische Entsprechungen vor. | |
Auch der Jahrgang 2016 ließ daran keine Zweifel aufkommen. Die diesjährige | |
Filmauswahl widmete sich dabei schwerpunktmäßig den Themen HIV und Sex im | |
Alter. Auch sexuelle Schattenseiten wie das Phänomen Chemsex oder | |
Vergewaltigungen an US-Colleges wurden nicht ausgespart. Zugleich bewiesen | |
die Filmemacher*innen eine unbändige Lust am Experimentieren mit den Genres | |
und Formen. | |
Herzstück des Pornfilmfestivals Berlin ist der Wettbewerb der Kurzfilme, | |
dessen erster Preis von einer internationalen Jury vergeben wird und mit | |
500 Euro dotiert ist. Im Jahrgang 2016 zeigten sich die vorgestellten | |
Wettbewerbskurzfilme inhaltlich und formal stark wie seit Jahren nicht | |
mehr. Womit der Wettbewerb auch stellvertretend für die generelle Stärke | |
der Kurzfilme 2016 stand. Insgesamt 17 unterschiedliche Kurzfilmprogramme | |
wurden präsentiert. Soviel thematische und filmische Vielfalt gab es beim | |
Pornfilmfestival noch nie. | |
## Einer der erregendsten Filme im Festivalprogramm | |
Im Kurzfilmwettbewerb überzeugten vor allem zwei Produktionen aus | |
Deutschland. Der Film „Etage X“ der Nachwuchsfilmemacherin Francy Fabritz, | |
die an der Berliner Filmhochschule DFFB Regie studiert, gewann den ersten | |
Preis. Fabritz erzählt in ihrem Film von einer zufälligen Begegnung zweier | |
Frauen jenseits der 50 im steckengebliebenen Fahrstuhl eines | |
Luxus-Kaufhauses. Eine der Frauen muss dringend auf die Toilette, die | |
Andere hat eine große Handtasche. Im Verlauf der 14 Minuten Laufzeit dieses | |
vergnüglichen, handwerklich sehr soliden und vor allem wunderbar gespielten | |
Kurzfilms wird die Handtasche einer neuen Funktion zugeführt und ein | |
Frauen-Po mit viel Schwung versohlt – bevor sich schließlich der Fahrstuhl | |
wieder in Bewegung setzt. | |
Der Berliner Filmemacher Sebastian Ebi wurde von der Jury mit einer | |
lobenden Erwähnung bedacht, gleichwohl sein Erstlingsfilm „Positive | |
Lebenseinstellung“ den ersten Preis mindestens genauso verdient hätte wie | |
„Etage X“. Ebi lässt ein junges Pärchen einen gemeinsamen Nachmittag, Abe… | |
und Morgen miteinander verbringen. Sie tingeln durch die Stadt, sie spielen | |
im Bett miteinander, sie haben Sex zum Frühstück. Sebastian Ebi gelingt es, | |
in seinem Pornodebüt die mit den Händen greifbar scheinende sexuelle | |
Spannung seiner ProtagonistInnen in ästhetischen Bildern einzufangen. | |
„Positive Lebenseinstellungen“ muss als einer der wortwörtlich erregendsten | |
Filme im diesjährigen Festivalprogramm gelten. | |
Zugleich ist es der einzige Film (in einer ganzen Reihe von Werken im | |
Programm, die HIV thematisieren), der für einen zeitgemäßen Blick auf | |
HIV/Aids plädiert. Rund 20 Jahre nach Einführung der lebensrettenden und | |
den HI-Virus unterdrückenden Kombinationstherapie gilt im | |
gesellschaftlichen Umgang immer noch der Angst- und Panikmodus, ganz so, | |
als ob sich seit Ausbruch der Aids-Krise in den 1980er Jahren wenig getan | |
hätte. „Positive Lebenseinstellung“ betont dagegen den Fakt, dass eine | |
funktionierende HIV-Therapie in ihrer Schutzwirkung mit dem Kondom | |
gleichzusetzen ist. Dass also der Sex ohne Kondom mit einem Menschen in | |
einer funktionierenden Therapie mindestens genauso sicher ist, wie die | |
Verwendung eines Kondoms. | |
## Stigmatisierung statt Aufklärung | |
Ganz im HIV-Panikmodus verfangen war hingegen ein Publikumsliebling der | |
diesjährigen Berlinale: „Théo et Hugo dans le même bateau“, der auch beim | |
Pornfilmfestival gezeigt wurde. Der Film des französischen Regieduos | |
Olivier Ducastel und Jacques Martineau erregte vor allem Aufsehen ob seiner | |
sexuell expliziten Einstiegssequenz, die in einem Pariser Darkroom spielt. | |
Die Hauptfiguren haben dort Sex ohne Kondom, was im weiteren Verlauf der | |
Erzählung zu einem grotesken Konflikt aufgebauscht wird, der mit der | |
Realität von HIV in Europa im Jahr 2016 jedoch wenig zu tun hat. Eher trägt | |
er zur Stigmatisierung von HIV-positiven Menschen bei. | |
Chemsex bezeichnet sexuelle Interaktionen, meist im Kontext schwuler | |
Sexualität, die unter Einsatz harter Rauschmittel stattfinden. Gleichwohl | |
schwule Sexualität und Rauschmittel seit jeher eng miteinander verwoben | |
sind, ist Chemsex eine relativ neue Erscheinung, in deren Zentrum die | |
Substanzen Crystal Meth und GHB stehen. | |
GHB ist ein ausrangiertes Narkosemittel, dessen Wirkung einerseits sexuell | |
stimulierend ausfällt, andererseits aber auch betäubt. Zu hoch dosiert kann | |
dessen Einnahme zu Atemstillstand oder zum Tod führen. Chrystal Meth, | |
ebenfalls ein ausrangiertes Medikament, steigert das sexuelle Empfinden um | |
ein Vielfaches. Es hält zudem über Tage wach. Berüchtigt ist die Substanz | |
aufgrund ihrer Eigenschaft, binnen kürzester Zeit in die Abhängigkeit zu | |
führen. Beide Mittel scheinen derzeit vor allem die schwulen Communities in | |
den westlichen Metropolen umzukrempeln; in Europa vor allem die Londoner | |
Szene. | |
## Manipulatives Machwerk | |
Dort haben sich die Filmemacher William Farman und Max Gogarty umgeschaut | |
und mit Drogenkonsumenten, Ärzten und Aktivisten über Chemsex | |
beziehungsweise dessen Folgen gesprochen. Produziert vom | |
US-Entertainmentkonzern Vice, richten die Filmemacher ihr Werk ganz an den | |
formalen Gepflogenheiten dieses Medienunternehmens aus. Die Tonspur wird | |
konsequent mit dräuender Musik unterlegt, ganz so, als ob in der nächsten | |
Sekunde der Weltuntergang zu erwarten sei. | |
Bildgestaltung und Montage zielen darauf ab, dem Publikum die | |
Drogenkonsumenten als gefallene schwule Freaks vorzuführen, die sich ihren | |
Selbsthass mit einer Extradosis Crystal Meth wegzuspritzen versuchen – | |
natürlich vor der Kamera. „Wir (die Schwulen) normalisieren das Extreme“, | |
gibt ein Psychologe an einer Stelle der Kamera zu Protokoll. Dieser | |
dokumentarische Film ergötzt sich lustvoll daran. „Chemsex“ ist ein | |
reißerischer und manipulativer Elendsporno. | |
Durchaus auch an den formalen Bedürfnissen von Sensationsmedien orientiert | |
ist die Dokumentation „The Hunting Ground“, welche vom US-Nachrichtensender | |
CNN mitproduziert wurde. Der Film von Kirby Dick widmet sich dem Phänomen | |
der massenhaften Vergewaltigungen junger Frauen an US-Universitäten. 16 | |
Prozent aller Studentinnen an US-Colleges werden jedes Jahr Opfer sexueller | |
Übergriffe, 88 Prozent der Frauen erstatten keine Anzeige. Und dies hat, | |
wie Kirby Dick äußerst eindrucksvoll darlegt, seine Gründe. Erfahren die | |
jungen Frauen doch selbst an Eliteunis wie Harvard und Stanford keine | |
Unterstützung. Die Administrationen verschweigen diese Vorfälle | |
systematisch. Schlimmer noch: Nicht selten wird den Studentinnen die | |
Verantwortung für die sexuellen Übergriffe zugeschoben. Angezeigte Täter | |
müssen kaum oder keine Strafen fürchten. | |
Doch „The Hunting Ground“ berichtet auch von Frauen, die diese Qualen nicht | |
länger erdulden wollten und sich wehren. Zwei dieser Frauen rückt Kirby | |
Dick ins Zentrum seiner Dokumentation. Anhand ihrer Schicksale entwickelt | |
er eine schonungslose Bestandsaufnahme und zeigt, wie aus einer kleinen | |
Initiative eine zunehmend mächtige Bewegung erwachsen ist, die es nicht | |
mehr toleriert, dass Frauen im privat finanzierten US-Bildungssystem | |
Freiwild sind. | |
## Mit Aids gegen das kubanische Regime | |
Freiwild zu sein gehörte auch Anfang der 1990er Jahre für junge | |
AußenseiterInnen auf Kuba zum Alltag. Der kommunistische Staat verfolgte | |
sie rigoros, die Gesellschaft verachtete sie. Ihr einziger Ausweg aus der | |
Repression: Aids. Sie infizierten sich gegenseitig absichtsvoll mit HIV und | |
besiegelten somit ihr absehbares Ende. 1994 drehte der junge Filmstudent | |
Vladimir Ceballos mit der geborgten Videoausrüstung von | |
US-Austauschstudenten einen Film über diese jungen Menschen, die den | |
sicheren Tod wählten, um endlich etwas Freiheit zu erlangen. | |
In die USA geschmuggelt und dort fertiggestellt, warf Ceballos' Film | |
„Maldito sea tu Nombre, Libertad“ (zu deutsch in etwa „Verflucht sei dein | |
Name, Freiheit“) ein Schlaglicht auf den unbändigen Widerstandswillen | |
junger KubanerInnen gegen das Castro-Regime. Ceballos konnte für Jahrzehnte | |
nicht nach Kuba zurückkehren, ihm hätte ob des Films die Verhaftung | |
gedroht. Vor kurzem wurde dieses schroffe Werk von Clara López Menendez, | |
einer Kuratorin des US-Pornfilmfestivals Dirty Looks, wiederentdeckt und | |
nun auch in Berlin präsentiert. | |
## Die goldenen 70er: Anarchie, Titten und große Penisse | |
Neu- und Wiederentdeckungen der speziellen Art hielt die diesjährige | |
Retrospektive des Berliner Pornfilmfestivals bereit. Unter dem Titel | |
„Liebesgrüße aus der Bundesrepublik“ präsentierte Kurator Jochen Werner | |
Sexfilme aus den 1970er Jahren. Werke wie „Schulmädchenreport“, „Drei | |
Schwedinnen in Oberbayern“ oder „Liebesvögel“ sind heute nur noch wenigen | |
im Gedächtnis, sorgten jedoch in der damaligen Zeit für Rekorde an den | |
Kinokassen. | |
Aus heutiger Sicht wirken diese Filme wie Zeitkapseln aus einem | |
untergegangenen Land. Und ein Stück weit ist man beim Ansehen dieser Filme | |
auch ganz froh darüber, dass dieses Land der Vergangenheit angehört. Sorgen | |
doch vor allem die Frauenbilder in diesen Filmen aus heutiger Sicht für | |
einiges Kopfschütteln. Den Komödien unter diesen Sexfilmen kann man jedoch | |
einen Hang zur Anarchie und den Wunsch nach Ausbruch aus einer ziemlich | |
kleinbürgerlichen Realität nicht absprechen. Darüberhinaus legen sie auch | |
Zeugnis ab über eine schier nicht zu bremsende inszenatorische | |
Experimentierfreude. | |
Auch heutige FilmemacherInnen lieben das Spiel mit Erzählformen und | |
Zeitkolorit. Der britische Pornograf und Labelbetreiber Kristen Bjorn | |
taucht in seinem schwulen Pornokurzfilm „Trouser Bar“ tief ein in die | |
1970er Jahre und in eine Boutique für Herrenbekleidung. Die Hosen haben | |
weiten Schlag, Jeans und Cord sind die bestimmenden (selbstverständlich | |
sexuell aufgeladenen) Textilien. Angetrieben von mitreißender Diskomusik, | |
entspinnt sich eine prickelnde Orgie. Vermögen die üppigen Penisgrößen der | |
beteiligten schwulen Mainstream-Pornostars kaum noch zu überraschen, | |
begeistert „Trouser Bar“ durch seine detailverliebte Ausstattung und | |
Inszenierung. | |
Eine große Liebe zum Detail beweist auch Anna Biller in ihrem Spielfilm | |
„The Love Witch“. Elaine ist eine junge Hexe mit einem unstillbaren Hunger | |
nach Liebe. Dumm nur, dass ihr die Männer immer wieder unter rätselhaften | |
Umständen wegsterben, womit sie irgendwann den Argwohn der Polizei erregt. | |
„The Love Witch“ feiert kunstvoll die Farben und Oberflächen der | |
Technicolor-Ära des Hollywood-Kinos der 60er Jahre. Erzählerische Zutaten | |
aus Thriller, Gruselfilm, Tragikomödie und Romanze werden bunt | |
zusammengemischt und ergeben einen überbordenden – aber auch überlangen | |
Trip. | |
## Wenn Streicheln wichtiger wird als Ficken | |
Darüber wie es war, in jenen Zeiten zu leben, denen viele Filme des | |
Festivals nun huldigen, können die schwulen Männer in „Sex and the Silver | |
Gays“ einiges berichten. Die Dokumentation des New Yorker Filmemachers | |
Charles Lum besucht ein Treffen der „Prime Timers“, einem Zusammenschluss | |
schwuler Senioren, von denen es in den USA in allen Großstädten Ortsgruppen | |
gibt. Die Ortsgruppe New York bietet ihren Mitgliedern neben Ausflügen, | |
Nachmittagstreffen und Spieleabende jedoch noch ein spezielles | |
Zusatzangebot, eine monatliche Gruppensexparty. | |
Charles Lum stellt in „Sex and the Silver Gays“ nicht nur die Protagonisten | |
einer solchen Sexparty vor, er und sein Co-Regisseur Todd Verow begleiten | |
die Männer auch zu der speziellen Vergnügungsveranstaltung. Wobei sich, | |
dies zeigen die Filmemacher ungefiltert, schwuler Sex im Alter weniger um | |
Penetration dreht. Vielmehr geht es ums Streicheln, Kraulen, Schwänze | |
lutschen, Brustwarzen und Spanking. Jeder mit jedem, jeder so wie er es mag | |
und (noch) kann. Wessen Körper nicht mehr viel kann, weil ihn Prostatakrebs | |
und das Alter der Libido beraubt haben, der erfreut sich daran, dem | |
Geschehen als Zuschauer beizuwohnen. Diese Treffen seien Schmerzmittel und | |
Antidepressivum zugleich, gibt einer der Männer der Kamera zu Protokoll. | |
Man kann nicht anders, als ihm und seinem verschmitzen Lächeln zu glauben. | |
„Sex and the Silver Gays“ war vielleicht das anrührendste Werk im | |
diesjährigen Festivalprogramm. Eine eindrucksvolle Erzählung über die | |
positive Kraft, die der menschlichen Sexualität innewohnt. Und ein | |
überzeugendes Plädoyer für den Genuss am Sex – ganz egal wie alt ein Mensch | |
ist. Mehr kann ein Pornfilmfestival kaum erreichen. | |
1 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Manuel Schubert | |
## TAGS | |
Porno | |
Sex | |
Schwerpunkt HIV und Aids | |
Vergewaltigung | |
Pornfilmfestival | |
Pornografie | |
Pornografie | |
Kunstverein Wolfsburg | |
Pornofilm | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Unterwegs im 13. Pornfilmfestival Berlin: Kuscheln und Quälen | |
Filme über sexuelle Spielarten jenseits des Penis-fickt-Loch-Schemas | |
dominierten das Programm des Pornfilmfestivals Berlin 2018. | |
Pornfilmfestival Berlin 2017: Mondfrauen und erleuchtete Penisse | |
Meerjunglesben spielen Poker, Donald Trump fickt Männer und Berlins Homos | |
sind einsam. Ein Rundgang durch das 12. Pornfilmfestival. | |
Kunst und Sex in Wolfsburg: Die pornografische Gesellschaft | |
Der Kunstverein Wolfsburg widmet sein diesjähriges Programm aktuellen | |
Auftrittsformen von Sexualität in der digitalisierten Kultur. | |
Pornfilmfestival Berlin 2014: Von Schwanzlesben und Sadistinnen | |
In Kreuzberg feierte das Pornfilmfestival zum neunten Mal die Vielfalt der | |
Geschlechter und des Sex jenseits von Wichsvorlagen. |