# taz.de -- Kunst im Bahnhof: Symbolische Befundstellen | |
> Seit inzwischen zehn Jahren nehmen in Wolfsburg die „Kunst-Stationen“ | |
> bewusst den öffentlichen und Transitraum in Beschlag. | |
Bild: Kunst im Bahnhof: Auch das ist Wolfsburg | |
WOLFSBURG taz | Kunst im öffentlichen Raum ist ja so eine Sache. Mitunter | |
soll sie dazu dienen, städtebaulich problematische Situationen in den Blick | |
zu nehmen. Nicht immer gelingt das so leichtfüßig wie zuletzt in Bremen mit | |
dem Parcours vieler kleiner Aktionen zum “Inneren der Stadt“. | |
Auch in Wolfsburg ist Kunst im öffentlichen Raum ein Thema mit gewisser | |
Tradition, das erwartungsgemäß bislang eher mit großen Namen und | |
stationärer Kunst an repräsentativen Orten absolviert wurde: Eine | |
beachtliche Bronzeplastik von Tony Cragg etwa liegt seit 1998 unweit des | |
örtlichen Kunstmuseums. Aber es gibt auch, am Schillerteich, die | |
Spielplastik des lokalen Bildhauers Jochen Kramer (1935–1988), ein System | |
aus Röhren, Rutschen und Podesten, 1982 eingeweiht und im Sommer 2010 | |
liebevoll restauriert. | |
Zur zurückhaltenderen Fraktion zählt auch das Langzeitprojekt der | |
Kunst-Stationen am Wolfsburger Hauptbahnhof, das gerade sein zehnjähriges | |
Jubiläum feierte. Die bundesweit einmalige Kooperation zwischen Deutscher | |
Bahn, Städtischer Galerie und einer Wolfsburger Wohnungsbaugesellschaft ist | |
nur mittelbar abhängig vom VW-Konzern, was ihr gerade in Zeiten sich | |
ausweitender Abgas-Skandale sympathisch bescheidene Züge verleiht. Seit | |
2006 nimmt sich jedes Jahr eine ausgewählte jüngere KünstlerIn eines gerade | |
mal 15 Quadratmeter großen Wartebereiches in der Eingangshalle des Bahnhofs | |
an, gestaltet Wände und Decke – zusammen immerhin 35 Quadratmeter Fläche – | |
oder ersinnt ein komplettes Interieur. | |
Zumindest gestartet ist aber auch dieses Projekt im Jahr 2005 mit | |
Paukenschlag: Mit Daniel Buren aus Paris legte da eine echte Legende quasi | |
den Grundstein für alle folgenden Interventionen, als er den gesamten | |
Fußbodenbereich von Bahnhofshalle und Tunnel bis zu den Gleisen mit einem | |
Fliesenmuster versah. | |
Der 1938 geborene Franzose hatte sich in den 1960er Jahren von der Malerei | |
ab- und der installativen Konzeptkunst zugewandt. Sein Markenzeichen | |
seither: strenge, gleich breite Streifen, meist weiß mit einem intensiven | |
Kontrast, die er konsequent flächig oder als räumliche Elemente in einer | |
bestehenden Situation ausbreitet. Seine Kunst ziert prominente Orte, etwa | |
seit 1986 den Hof des Pariser Palais Royal. | |
Für den Wolfsburger Bahnhof ging Buren von den Maßsystemen vor Ort aus und | |
erfand einen Fünf-Meter-Rhythmus, in dem er dann ein diagonales Gitternetz | |
immer gleich großer quadratischer Ornamente aus weißen Streifen in einen | |
anthrazitfarbenen Belag verlegte. Die Elemente sind vieldeutig lesbar, | |
erinnern etwa an Zebrastreifen oder bilden Pfeilspitzen im Tunnel: Zeichen | |
des Ankommens oder Verlassens im Transitraum, ganz wie man will. Als | |
Besonderheit hat der Bahnhof einen Durchstich zum Mittellandkanal, ist eine | |
öffentliche Passage zwischen Stadt und Natur – sofern man auch die bewegte | |
Geländewagenteststrecke der VW-Autostadt gleich nebenan dazurechnen möchte. | |
2006 diente das Bodenkunstwerk dann erstmals als Ausgangspunkt für eine | |
weitere künstlerische Arbeit: Es war Hintergrund für den Fotoworkshop „Art | |
& Fashion“. Grafisch strenge Mode wurde zu Schwarz-Weiß-Fotos inszeniert, | |
eine Auswahl präsentierte man im Warteraum. Es folgten andere künstlerische | |
Temperamente mit betont installativen Arbeiten, etwa 2009 René Seifert: Er | |
verwandelte den kleinen Raum für einen Monat in eine kubistische | |
Innenraumskulptur aus feuerrotem Kunstrasen. Der Fotograf und ehemalige | |
Bernd Becher-Meisterschüler Claus Goedicke stellte im Jahr danach eine | |
digital komponierte Fototapete her, ein Kanarienvogel etwa befreite sich | |
zum Abflug aus dichtem Ornament. Oder Maximilian Thiel: Der griff zu | |
Schneide- und Fräswerkszeug und machte aus den Wänden des Warteraums | |
überdimensionale plastische Druckstöcke. | |
Als Ort zur Kunstvermittlung ist der Bahnhof geschickt gewählt: In der | |
Pendlerhochburg Wolfsburg nutzen täglich 16.000 Reisende sein Angebot, das | |
ergibt rein rechnerisch rund 5,8 Millionen Kunstkontakte pro Jahr. Dagegen | |
nehmen sich die 1,1 Millionen, die 2004 während sieben Monaten zur | |
Moma-Ausstellung nach Berlin pilgerten, geradezu lächerlich aus! Aber das | |
wäre schon wieder so ein Superlativ, nicht untypisch für die Stadt; und der | |
wich zuletzt einer neuen, wohltuenden Nachdenklichkeit. | |
In der jüngsten Kunst-Station etwa hüllt Schirin Kretschmann, 2015 | |
Post-Graduate-Stipendiatin an der Kunsthochschule Braunschweig, Wände und | |
Decke in ein warm-dunkles, leicht glänzendes Orange mit einigen bewusst | |
gesetzten Fehlstellen. Diese grafisch exakten Aussparungen legen vorherige | |
Wandarbeiten offen: Wie die Fenster denkmalpflegerischer Befundstellen | |
scheinen sie symbolisch einen geheimnisvollen, noch genauer zu | |
erforschenden Untergrund zu offenbaren. Der glänzende Farbauftrag drum | |
herum wurde in vielen Arbeitsschritten, mit Spachtel- und Schleifgängen | |
dazwischen, hergestellt und verleiht Wand und Decke eine entspannte, fast | |
meditative Aura. | |
„PANAMA“, so der Titel der Installation, lässt von fernen Ländern träume… | |
ist aber auch die Reprise einer beliebten Autolackfarbe aus dem VW-Programm | |
der 1970 Jahre: panamabraun. Ganz ohne VW scheint es selbst während | |
Krisenzeiten in Wolfsburg einfach nicht zu gehen. | |
14 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
## TAGS | |
Wolfsburg | |
Kunstprojekt | |
Bahnhof | |
Freiheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kunstschau in Wolfsburg: Fragile Freiheiten | |
Die Grenzen sexueller, künstlerischer und individueller Freiheit will das | |
Kunstmuseum Wolfsburg ausloten – „Im Käfig der Freiheit“. |