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# taz.de -- Reform der Psychiatriefinanzierung: Pauschal abgefertigt
> Kliniken sollen pro Patient einen Pauschalbetrag erhalten. Kritiker
> befürchten ökonomische Fehlanreize und eine überbordende Bürokratie.
Bild: In der Thübinger Uni-Klinik für Psychiatrie sind Chihuahuas Teil der ti…
Karlsruhe taz | Zum Januar nächsten Jahres sollte die Finanzierung aller
psychiatrischen Kliniken reformiert werden – doch bereits zweimal wurden
die Pläne geändert. Nach dem Willen der Bundesregierung sollen zukünftig
sogenannte „pauschalisierte Entgelte“ fließen: Wenn ein Patient sich wegen
einer Depression oder schizophrenen Episode in einer Psychiatrie behandeln
lässt, entlohnt die Krankenkasse die Klinik in Abhängigkeit von seiner
Diagnose und anderen Merkmalen. Doch trotz aufwändiger Dokumentation könne
das neue System den Behandlungsaufwand nicht ausreichend erfassen,
befürchten Kritiker.
Insbesondere personalaufwändige Bereiche seien zukünftig unterfinanziert,
bemängelt die grüne Bundestagsabgeordnete Maria Klein-Schmeink. Sie sieht
die „große Gefahr“, dass Menschen mit schweren oder chronischen psychischen
Erkrankungen sowie Kinder und Jugendliche „aus ökonomischen Gründen nicht
mehr individuell angemessen behandelt werden“.
Nachdem das „Pauschalierende Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik“
(PEPP) im vergangenen Jahr entschärft wurde, um starke Fehlanreize für zu
frühe oder zu späte Entlassungen zu verhindern, hielt die Kritik von
Ärzten, Patienten oder Pflegeverbänden weiter an. Anfang diesen Jahres
kündigte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) eine weitergehende
Reform der Reform an, und verkündete gleichzeitig eine Einigung mit den
beteiligten Organisationen.
Doch sein Gesetzentwurf, den die Bundesregierung im Sommer verabschiedete
und der unter anderem die Einführung des modifizierten Systems „PEPP“ um
ein Jahr verzögert, geht vielen Experten nicht weit genug, wie kürzlich auf
einer Bundestagsanhörung deutlich wurde: Sie fürchten weiterhin
Rückschritte für die psychiatrische Versorgung und kritisierten die Pläne
teils sehr deutlich.
## Ökonomische Fehlanreize
Viele Kritiker sehen das aktuelle Gesetz als „PEPP durch die Hintertür“,
wie es die gesundheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Kathrin
Vogler, formuliert. Für eine Koalition von rund 20 Ärzte- und
Patientenverbänden bleibt es „weit hinter den Forderungen und Erwartungen“.
Sie sehen starke ökonomische Fehlanreize, überbordende Bürokratie und keine
gesicherte Finanzierung des nötigen Personals.
Zwar will die Bundesregierung psychiatrische Kliniken anders als bislang
geplant nicht über vereinheitlichte Preise finanzieren. Kliniken sollen wie
bisher Kosten für die Notfallversorgung oder andere Besonderheiten in
Budgetverhandlungen mit den Kassen einbringen können. Auch sollen sie
manche Patienten individuell zu Hause behandeln dürfen.
Doch erfordern die UN-Behindertenrechtskonvention wie auch Urteile des
Bundesverfassungsgerichts eigentlich, dass sich die Behandlung deutlich
stärker am Patienten ausrichten muss, was mit PEPP laut vieler Experten
nicht der Fall sein wird. „Ein neues Entgeltsystem für Psychiatrien muss
diese Veränderungen befördern“, forderte die grüne Bundestagsfraktion im
September.
Wie der Bundesrat sehen viele Experten durch eine zukünftige
Vereinheitlichung der Klinikbudgets die Gefahr einer Abwärtsspirale in der
Psychiatrie: Häuser mit höheren Kosten würden zu Sparmaßnahmen gezwungen,
während das eingesparte Geld anderen Kliniken nicht zur Verfügung gestellt
werde. Auch könnten unberücksichtigte Lohnsteigerungen zu Personalabbau
führen. „Tariferhöhungen müssen voll finanziert werden“, forderte Niko
Stumpfögger von Verdi.
„Das ist eine Schraube nach unten“, warnte Iris Hauth von der Deutschen
Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und
Nervenheilkunde (DGPPN) gegenüber der taz. „Da werden die Kliniken an den
Rand der Existenz getrieben.“
## Betreuung nicht nur in Krisenzeiten
Doch in der Psychiatrie ist nicht nur das Geld entscheidend. Wenn Patienten
von einer ambulanten Behandlung in eine Klinik eingewiesen werden, gibt es
für sie oft schwierige Wechsel – wie auch bei ihrer Entlassung. Es bedürfe
Teams von Ärzten, Pflegern oder Therapeuten, die Patienten über Jahre
hinweg auch zu Hause betreuen, betonte Nils Greve vom Dachverband
Gemeindepsychiatrie in der Anhörung. Anders als geplant dürfe dies nicht
nur in Krisenzeiten möglich sein, sondern fortlaufend, ist Greve überzeugt.
Seiner Einschätzung nach arbeiteten Ärzteverbände, Kliniken und andere
Beteiligte nicht ausreichend zusammen – und müssten deshalb „mit allen
verfügbaren Mitteln“ hierzu gezwungen werden.
Thomas Böhm vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte fürchtet, dass es
durch das geplante Gesetz ganz anders kommt: Es könnte auch Psychiatrien
unter Druck setzen, die Behandlungszahl zu erhöhen, unnötige Behandlungen
durchzuführen und ihren Patienten möglichst schwere Diagnosen zu geben, die
sich besser abrechnen lassen. So kämen „alle negativen ökonomischen
Anreize“ durch, wie sie seit Einführung der sogenannten Fallpauschalen vor
gut zehn Jahren auch in anderen Kliniken herrschen, erklärte er.
Seitdem bekommen Krankenhäuser für die Behandlung etwa einer
Blinddarmentzündung eine feste Pauschale, weitgehend unabhängig vom
individuellen Zustand des Patienten.
Eine für viele Verbände entscheidende Forderung brachte Jurand Daszkowski
vom Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen ein: Eine Expertenkommission
solle verbindliche Leitlinien erarbeiten, wie viel Personal Kliniken
zukünftig mindestens finanziert bekommen müssten. Dabei sei es wichtig,
dass Vertreter von Angehörigen und Betroffenen deutlich besser eingebunden
werden.
Patienten haben „ein Recht auf menschengerechte Behandlung“, betonte der
Psychiater Andreas Heinz von der Aktion Psychisch Kranke. Daher sollte mehr
als 40 Jahre nach der so genannten Psychiatrie-Enquête nun eine
Expertenkommission die Zukunft der Psychiatrie in Deutschland diskutieren.
28 Oct 2016
## AUTOREN
Hinnerk Feldwisch-Drentrup
## TAGS
Psychiatrie
Reform
Klinik
Hermann Gröhe
Psychotherapie
Psychiatrie
Leben mit Behinderung
U-Bahn
Abschiebung
psychische Gesundheit
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