# taz.de -- Besuch an der „Schule des Schreibens“: Sei nicht langweilig! | |
> In vier Lektionen zum Buch: Die „Schule des Schreibens“ will Menschen zu | |
> Schriftstellern ausbilden. Kann das klappen? | |
Bild: Jeder Schreiber muss sich selbst erkennen – manchmal reicht dafür ein … | |
Die ganze Sache mit dem Schreiben fing damit an, dass Johnny Depp Fabienne | |
Offermanns Hand nahm und sagte: „Du musst das jetzt machen.“ | |
Fabienne Offermann, 35 Jahre alt, ist Rechtsanwaltsfachangestellte in | |
Elternzeit und wohnt in Bergisch Gladbach. Gerade schreibt sie an einem | |
Roman. Als sie damals ihre Ausbildung begann, hatte sie schon ein Studium | |
in Malerei und eins in Modedesign abgebrochen und war eine Zeit lang | |
arbeitslos gewesen. Die Geschichte ihres Lebens, sagt Fabienne Offermann, | |
ist, dass sie nie irgendwas zu Ende mache. | |
Aber dann kam Johnny Depp. | |
Johnny Depp steht also neben Fabienne Offermann vor einer Tür. Sie hat | |
Angst hineinzugehen. Johnny nimmt ihre Hand und sagt: „Du musst das jetzt | |
machen.“ Also macht sie es. | |
Hinter der Tür ist ein Badezimmer. Ganz kahl, nicht einmal eine | |
Seifenschale steht auf dem Waschbecken. Eine Seite des Raumes ist eine | |
Spiegelwand. Fabienne Offermann will nicht hinschauen. „Mach die Augen | |
auf“, sagt Johnny. „Du musst das jetzt tun.“ Sie öffnet die Augen. Hinter | |
ihr auf dem Badewannenrand sitzt ein Mädchen und schaut sie im Spiegel an. | |
Sie dreht sich um. Aber dort ist kein Kind. Sie schließt die Augen wieder | |
und spürt wie Johnny ihre Hand loslässt. Die Tür schlägt zu. Sie ist | |
allein. | |
Wäre jetzt der beste Moment, um zu erzählen, dass das Ganze ein Traum war? | |
Lektion 1: Das Erste, was Sie unbedingt brauchen, sind Konflikte. | |
„Es gibt keine Geschichte ohne Konflikte“, sagt Karla Schmidt. Fabienne | |
Offermann schaut sie an, wartend, den schwarzen Kuli in der Hand. Offermann | |
hat einen Kurs gebucht, in dem die Autorin Karla Schmidt ihr und sechzehn | |
anderen beibringen soll, wie man ein Buch spannend macht. | |
Dafür sitzen sie im Literaturhaus Berlin, einer Villa im Westen der Stadt. | |
Holzgetäfelte Wände, Fischgrätenparkett – und ein Flipchart, auf der Karla | |
Schmidt nun zu schreiben beginnt. Ihre Botschaft: Ein Schriftsteller ist | |
kein Genie. Ein Schriftsteller ist jemand, der gut schreibt. Das kann man | |
lernen. | |
Das mit der Spannung zum Beispiel: Karla Schmidt lässt eine | |
Seminarteilnehmerin das Ende eines dünnen Gummis halten. Am anderen Ende | |
zieht sie. Als man denkt, es reißt gleich, zieht sie noch ein bisschen. | |
„Das ist Spannung“, sagt sie. „Die Ungewissheit: Wird es gleich passieren… | |
Lektion 2: Sorgen Sie dafür, dass Ihre Hauptfigur gleich zu Anfang unter | |
einer Frage leidet. Bleiben Sie die Antwort so lange wie möglich schuldig. | |
Fabienne Offermann hatte sich als Mädchen während einer Familienfeier ins | |
leere Wohnzimmer geschlichen und den Fernseher angestellt. Dort lief der | |
Horrorfilm „Poltergeist“, in dem Kinder in einem Haus in eine Zwischenwelt | |
verschwinden. Als sie ihre Mutter im Flur hörte, drückte sie schnell den | |
Aus-Knopf und huschte ins Bett. | |
Als Erwachsene träumt Offermann von dem geisterhaften Kind auf dem | |
Badewannenrand. Die Bilder verstören sie, immer wieder kehren ihre Gedanken | |
zu der Szene zurück. Bis sie alles aufschreibt. Von da an, sagt sie, wollte | |
sie schreiben. | |
Sie setzte sich hin und tippte drauflos. Einen Thriller. Irgendwann hatte | |
sie sich in den Handlungssträngen verheddert. Sie ließ das Manuskript | |
liegen, wie vieles in ihrem Lebens zuvor. | |
## Goethe wurde abgelehnt | |
Lektion 3: Fühlen Sie sich ab sofort wie ein Schriftsteller, der ein | |
Schriftstellerleben führt! | |
An dem Tisch im Literaturhaus Berlin sitzt ein junger Beamter, der sich in | |
seiner Behörde fehl am Platz fühlt, die Pflegerin einer Demenz-WG, die vor | |
zwanzig Jahren mal einen Roman angefangen hatte, eine Malerin. Auf dem | |
Tisch: Federmäppchen mit Elefantenmuster, eine Ausgabe von „Der Fänger im | |
Roggen“. | |
Die „Schule des Schreibens“ wirbt in U-Bahnhöfen und an Bushaltestellen mit | |
Plakaten, auf denen „Schreib! Dein! Buch!“ steht. Etwa 3.000 Schüler sind | |
derzeit für die Fernkurse eingeschrieben, zu denen man Seminare wie das von | |
Karla Schmidt hinzubuchen kann. Die größte Gruppe sind Frauen zwischen 40 | |
und 60 Jahren. Fabienne Offermann belegt den Lehrgang „Belletristik“. Er | |
kostet 97 Euro im Monat, zwei Jahre lang. Dafür bekommt sie Kurshefte nach | |
Hause und Feedback von einer Studienleiterin auf Texte, die sie einschickt. | |
Die Schule wurde 1969 gegründet, lange bevor hierzulande auch Universitäten | |
anfingen, Schriftsteller auszubilden. Schreiben handwerklich zu betrachten, | |
hat etwa in den USA eine lange Tradition. Im geniusverliebten Deutschland | |
bekam die Schule bei ihrer Gründung vor allem Häme ab. | |
Ein Journalist hatte sich damals beworben und einen Goethe-Text | |
eingeschickt. Er bekam als Antwort: „In Ihrer Erzählung erkennen wir | |
positive Ansätze. Was sich da an Unsicherheit im Umgang mit der Sprache und | |
Fehlern im Aufbau geltend macht, das können Sie mit einigem Fleiß und Liebe | |
zur Sache – und einer systematischen Ausbildung – überwinden lernen.“ | |
Fabienne Offermann erzählt zuerst niemandem, dass sie sich an der „Schule | |
des Schreibens“ angemeldet hat. Ihr Schwangerschaftstagebuch war nicht gut | |
angekommen. Nicht spannend, sagten ihre Verwandten. | |
Seitdem hat Offermann dazugelernt. Dass es unter dem großen Spannungsbogen | |
viele kleine braucht. Das ihre Figuren sich nicht zu ähnlich sein dürfen. | |
Das man vor einem Höhepunkt die Handlung verlangsamt und den Blick auf | |
Details lenkt, um die Auflösung noch weiter zu verzögern. Es sind Regeln, | |
für deren Beachtung man keinen Literaturnobelpreis bekommt, aber | |
möglicherweise eine gute Amazon-Rezension. | |
An dem Seminartisch im Literaturhaus in Berlin träumt kaum jemand vom | |
großen Gesellschaftsroman. Die meisten schreiben Genreliteratur, die sie | |
selbst gern lesen. Chick Lit, also Frauenromane, Krimis, Science Fiction. | |
Ein riesiger Teil des Buchmarkts, der im Feuilleton meist unsichtbar | |
bleibt. | |
Fabienne Offermann schreibt an einer Liebesgeschichte, die im Mittelalter | |
spielt. Man kann sich das gut vorstellen, wenn man sie anschaut, diese | |
große Frau mit den langen rotblonden Haaren und den Lederstiefeln. | |
Wenn Fabienne Offermann mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern am | |
Abendbrottisch sitzt, dann sitzt jetzt oft auch die Heldin ihres Romans | |
dabei. Offermann überlegt: Wie bewegt sie sich? Was mag sie? | |
Lektion 4: Am Ende müssen Sie Ihren Leser mit einem guten Gefühl aus dem | |
Buch entlassen. | |
Karla Schmidt, die den Kurs in Berlin leitet, hat selbst sieben Bücher | |
geschrieben – historische Romane, Thriller. Sie sagt, die wichtigste | |
Eigenschaft eines Schriftstellers ist Sitzfleisch. | |
Wenn Fabienne Offermanns Kinder im Bett sind, setzt sie sich mit dem Laptop | |
an den Esstisch. Sie könnte auch fernsehen. Oder einen Mittelalterroman | |
lesen, „Die Versuchung der Pestmagd“, den sie sich gerade gekauft hat. Aber | |
sie schreibt. | |
Die Frage lautet: Kann Fabienne Offermann Schriftstellerin werden? | |
Die Antwort: Irgendwie ist sie es schon. | |
Wird sie jemals ein Buch zu Ende schreiben? | |
Die besten Geschichten sind die, in denen der Leser auf mindestens eine | |
Frage seine eigene Antwort geben muss. | |
22 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Luise Strothmann | |
## TAGS | |
deutsche Literatur | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
Schreiben | |
deutsche Literatur | |
Buch | |
Schweiß | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
Comic | |
Buch | |
Schriftstellerin | |
Sasa Stanisic | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Literaturfestival Lit.Cologne: Dunkle Zwillinge, liebende Mütter | |
Romane wie beste Freundinnen: Fatma Aydemir, Tijan Sila und Takis Würger | |
lesen für den Debütpreis der Lit.Cologne um die Wette. | |
Bilanz Frankfurter Buchmesse 2016: Alle zufrieden außer den Taxifahrern | |
Die Auszeichnung der unabhängigen Verlage geht an den Arco-Verlag. | |
Politiker versprechen die Beibehaltung der deutschen Buchpreisbindung. | |
Autor Peter Stamm übers Schreiben: „Die Idee vom Paradies ist furchtbar“ | |
Schreiben macht Spaß und nicht einsam. Und das Glück muss nicht immer am | |
Ende gesucht werden. Peter Stamm zerlegt Schriftsteller-Klischees. | |
Kolumne Jung und dumm: Komm, wir stürmen Halle 4 | |
Wieder mal ist sie ganz schön durcheinander, die Life-Soul-Balance. Aber | |
egal – Hauptsache Event! | |
Biere und Comics aus Flandern: Komplexer Hopfen, schlichte Witze | |
Flandern wird Gastland auf der Frankfurter Buchmesse sein. Vorab brachten | |
die Flamen einen Biersommelier und den Comiczeichner Nix nach Berlin. | |
Longlist des Deutschen Buchpreises: Trend zur Midlife-Krisen-Literatur | |
Der Vorauswahl fehlen Komik und Spielfreude. Migrantische Autoren spielen | |
keine tragende Rolle. Und zwei wichtige Namen fehlen ganz. | |
Nachruf Angelika Schrobsdorff: Zum Sterben nach Berlin | |
Sie schrieb süffisante Gesellschaftsporträts der 50er Jahre, ihr erster | |
Roman war ein Skandal. Mit 88 Jahren ist Angelika Schrobsdorff gestorben. | |
Junge Literatur bei der Prosanova: Unabgefuckte Bekenntnisse | |
Dünnhäutig und marktkonform: In Hildesheim ist der neueste Stand der | |
Selbstvergewisserung im Literaturbetrieb zu besichtigen. |