# taz.de -- Gesellschaftsroman aus Indien: Groß rauskommen | |
> Indien Cricket, Korruption, Coming-out: „Golden Boy“ von Aravind Adiga | |
> ist ein erhellender Roman über Väter und Söhne als Kapital. | |
Bild: Cricketspieler aus Indien bei Freudensprüngen in die Luft | |
Indien kenne nur zwei Religionen, meint der indische Schriftsteller Aravind | |
Adiga: Kino und Cricket. Da ist was dran. | |
Ins Kino laufen Inder naturgemäß in Scharen und Cricketspieler verehren sie | |
wie Bollywoodstars, allen voran natürlich Sachin Tendulkar. Doch während | |
einem spontan Dutzende Romane über den indischen Kinofimmel in den Sinn | |
kommen, fallen einem zum Thema Cricket höchsten ein paar Krimis ein. Doch | |
Cricket-Romane? Aravind Adiga, seit seinem völlig zu Recht umjubelten und | |
preisgekrönten Debütroman „Der weiße Tiger“ Fachmann für die | |
Befindlichkeiten und Unmöglichkeiten der indischen Gesellschaft, legt jetzt | |
einen solchen vor. | |
„Golden Boy“ verfolgt aus unterschiedlichen Perspektiven das Schicksal | |
zweier Brüder, die in ärmsten Verhältnissen aufwachsen und mit ihrem | |
ehrgeizigen Vater, einem Chutney-Verkäufer, im eigenen Land emigrieren, von | |
Mangalore nach Mumbai, dem vormaligen Bombay, Finanzmetropole am Arabischen | |
Meer, wo auch Aravind Adiga heute lebt. | |
## Dinge beim Namen nennen | |
Es ist sein dritter Roman nach „Letzter Mann im Turm“, der auch schon in | |
Mumbai spielte. Dabei erreichen beide Nachfolger nicht ganz die ironische | |
Schärfe und originelle Finesse seines Erstlings, seine respektlos frische | |
Art hat er sich jedoch zum Glück erhalten. Das führt auch im neuen Buch | |
dazu, Dinge beim Namen zu nennen, über die man nicht gern spricht, schon | |
gar nicht in Indien. Etwa über die kriminell organisierte Manipulation von | |
Cricket-Spielen, die nicht nur in der indischen Premiere League manch | |
großen Skandal verursachte. | |
Adiga lässt seine zwei Buben Radha und Manju sowie ihren Vater innerhalb | |
dieses korrupten Systems stranden wie Robbenbabys. Dabei unternimmt er erst | |
gar nicht den Versuch, den Lesern die Feinheiten oder auch bloß die groben | |
Regeln des Spiels zu erklären. | |
Über wohl keinen anderen Sport sind solche gehässigen Bonmots im Umlauf wie | |
über das angeblich langweiligste Spiel der Welt, das sich bekanntlich | |
tagelang hinziehen kann. Das führt im Romans dazu, dass sich das | |
Nacherzählen von Spielverläufen für die Uneingeweihten zuweilen so öde | |
ausnehmen kann wie ein in Echtzeit durchlebtes Cricket-Match. Wie viele | |
Läufe welcher Schlagmann erzielt und was währenddessen die Feldspieler | |
treiben, gehört zu den Mysterien dieses Romans. | |
## Männerliebe, ein Tabu-Thema in Indien | |
Doch das beunruhigt nur zu Beginn des Buches, das sich in seinem Verlauf zu | |
einer Mischung aus Coming-of-Age- und Coming-out-Geschichte auswächst, in | |
der Cricket als Rahmen für ein besonders abgekartetes Spiel herhält. Auch | |
zum Thema Männerliebe möchte einem spontan so gut wie kein anderer | |
indischer Roman einfallen. Kein Wunder, gehört das Thema doch zu den großen | |
Tabus der indischen Gesellschaft. Noch immer existiert im dortigen | |
Strafgesetzbuch Paragraf 377, der „sexuelle Handlungen wider die Natur“ | |
unter Strafe stellt. | |
Adiga nutzt das Thema Homosexualität, um die Freiheit des Einzelnen in der | |
angeblich größten Demokratie der Welt abermals in den Blick zu nehmen. | |
Dabei begleitet das Buch die beiden Jungen von ihren zarten Teenagerjahren | |
bis zum Alter von Ende zwanzig. Wie schon in seinem Erstling nutzt Adiga | |
eine Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Dramaturgie als Erzählgerüst. Auch | |
diesmal ist das Groß-Rauskommen formuliertes Lebensziel der Protagonisten. | |
Wie in allen seinen Büchern, außer den Romanen veröffentlichte er 2009 auch | |
einen Erzählungsband, spürt Adiga dabei den Glücksversprechen der Großstadt | |
ebenso hinterher wie den Unterschieden zwischen den Klassen und Religionen. | |
Claudia Wenner hat das alles gewitzt ins Deutsche übertragen, ohne zu viel | |
in seinen eigenen Slang einzugreifen. | |
## Alles nimmt er auf die Schippe | |
Diesmal erfährt man zudem viel über indische Väter und Kinder als Kapital. | |
Dabei ist es wieder Adigas Fähigkeit zur Ironie, die seinen Erzählstil | |
aufwertet. Alles nimmt er auf die Schippe, sich selbst wie die | |
Cricketobsession seiner Landsleute, etwa wenn er zwei Kellner beobachtet, | |
wie sie ein Spiel auf dem Fernsehschirm verfolgen und in einem Nebensatz | |
mutmaßt, es sei sicher live oder vor zwei Jahren aufgezeichnet. | |
Dabei vollbringt es Adiga einmal mehr, einen Roman vorzulegen, an dem sich | |
der Gesundheitszustand Indiens locker ablesen lässt. Den theoretisch und | |
emotional mit Cricket vertrauten Lesern dürfte er diesmal allerdings ein | |
größeres Vergnügen bescheren. | |
11 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Shirin Sojitrawalla | |
## TAGS | |
Indien | |
Mumbai | |
Homosexualität im Profisport | |
Kolumne Kulturbeutel | |
Roman | |
Indien | |
Indien | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Booker Prize | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gepflegter Elitismus: Ein Königreich für Cricket | |
Für Mitteleuropäer ist der Sport nur schwer zu verstehen. Eine literarische | |
Annäherung hilft zumindest dabei. | |
Neuer Roman von Preti Taneja: König Lear in Indien | |
Der Anspielungsreichtum des Romans ist gigantisch. Taneja verlinkt | |
Literatur mit Wirklichkeit, Geschichte mit Gegenwart, Shakespeare mit | |
Indien. | |
Sportart Kabaddi in Indien: Die große Show der Fänger | |
Der archaische Sport Kabaddi ist in Indien vom TV zum Spektakel aufgebaut | |
worden. Bei den Zuschauerzahlen nähert man sich dem Cricket an. | |
Indiens Kampf gegen Korruption: Gut gedacht, schlecht gemacht | |
Als er Geldscheine für ungültig erklärte, wollte Indiens Premier Modi | |
Terrorfinanzierung erschweren. Es trifft aber erst einmal die Armen. | |
taz-Serie (1): Indiens umkämpfte Moderne: Der Fabrikant | |
Der Unternehmer Tariq Husain produziert in Indien Zeitungen für die USA, | |
Europa und Japan – fast in Echtzeit und zum halben Preis. | |
Roman "Letzter Mann im Turm": Von brutaler Schönheit | |
Sehnsuchtsort und Zumutung zugleich: Aravind Adigas neuer Roman "Letzter | |
Mann im Turm" inszeniert die indische Großstadt zeitgemäß und überzeugend. | |
Kolumne Nebensachen aus Dehli: Wenn Inder nach Sternen greifen | |
Inder des Jahres wurde nicht die Polizisten aus Bombay. Das Rennen machte | |
ein Raketenwissenschaftler. | |
Indischer Bestseller "Der weiße Tiger": Brüllend komisch! | |
Der Roman von Aravind Adiga "Der weiße Tiger" ist die Sensation des | |
Herbstes. Er hat für seinen frechen und erfrischenden Stil zu Recht den | |
renommierten Booker-Prize bekommen. |