# taz.de -- Indischer Bestseller "Der weiße Tiger": Brüllend komisch! | |
> Der Roman von Aravind Adiga "Der weiße Tiger" ist die Sensation des | |
> Herbstes. Er hat für seinen frechen und erfrischenden Stil zu Recht den | |
> renommierten Booker-Prize bekommen. | |
Bild: Aravind Adiga: ein begnadeter Satiriker und Sozialkritiker. | |
Vor zehn Jahren machte das Nachrichtenmagazin India Today mit einer | |
Geschichte unter dem Titel "The ugly Indian" auf. Der Journalist Swapan | |
Dasgupta beschrieb darin, welchen Anblick Indien 51 Jahre nach Erlangung | |
seiner Unabhängigkeit bot. Auf den flankierenden Fotos sah man | |
Lastwagenfahrer, die Polizisten wie selbstverständlich Geld zustecken, | |
gigantische Müllberge sowie Männer, die freimütig an Straßenecken pinkeln | |
und Betelsaft aus dem Autofenster rotzen. Kurz: all das, was jeder Tourist, | |
der sich nicht nur vorsichtig zwischen "Sheraton" und "Oberoi" bewegt, | |
jeden Tag in Indien sehen kann. | |
Zehn Jahre ist das her, und das Bild vom verlotterten Indien wurde längst | |
um das des glänzend computergesteuerten erweitert: Jeder Inder ein | |
potenzieller IT-Fachmann. Diese schielende Sicht auf das Land macht sich | |
der Schriftsteller Aravind Adiga für seinen umwerfenden Debütroman "Der | |
weiße Tiger" zu eigen. Vollkommen zu Recht erhielt er dafür jüngst den | |
britischen Man Booker Prize und verlängert damit die indische | |
Preisträgerriege aus Salman Rushdie, Arundhati Roy und Kiran Desai. | |
Mit dem indischen Unterschichtler Balram Halwai hat Adiga einen | |
Protagonisten und Ich-Erzähler geschaffen, wie man ihn sich nur ausdenken | |
kann. Dieser Halwai legt eine sagenhafte Karriere hin, die | |
US-amerikanischer kaum sein könnte: Geboren als Sohn eines Rikschafahrers | |
im Kaff Laxmangarh, arbeitet er sich zum Fahrer reicher Herrschaften hoch, | |
gelangt in die Hauptstadt Delhi und wird schließlich über den Umweg eines | |
unappetitlichen Mordes selbstgerechter Start-up-Unternehmer in der | |
südindischen Boomtown Bangalore. | |
Was für ein Leben! Das denkt sich auch Halwai und nimmt den Staatsbesuch | |
des chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao zum Anlass, diesem in | |
langen Briefen, die den Roman selbst ausmachen, alles zu schildern. | |
Scheinbar ohne Punkt und Komma erzählt Halwei in sieben Tagen und vor allem | |
Nächten sein unglaubliches Leben. | |
Wie Scheherazade vertröstet er den Ministerpräsidenten immer wieder, um | |
beim nächsten Mal dort anzuknüpfen, wo er aufgehört hat. Heraus kommt ein | |
Schelmenroman und die "Autobiografie eines halbgaren Inders", die brüllend | |
komisch die indische Wirklichkeit mit dem Abziehbild des Subkontinents | |
kurzschließt. In Indien selbst finden das nicht alle witzig, wie stets, | |
wenn jemand am polierten Image der aufstiegswilligen Nation kratzt. | |
Indische Kritiker reagierten verhalten bis ablehnend, vor allem aber | |
einigermaßen humorlos auf das Buch. | |
Dazu beigetragen haben mag die Tatsache, dass der 1974 in Madras geborene | |
Aravind Adiga im Ausland studierte und lange Jahre außerhalb Indiens | |
verbrachte. Ähnlich wie den Non-Resident Indian Suketu Mehta, der in seinem | |
Buch "Bombay - Maximum City" brutale Wahrheiten ausspricht, heißen manche | |
auch Adiga einen Nestbeschmutzer. Solche Vorwürfe prallen an den großen | |
Stärken des Romans, seinem stupenden Witz und seinem einwandfreien | |
schwarzen Humor, ab. Nicht zufällig spricht Halwai gleich auf der fünften | |
Seite von einem "fucking joke". Damit meint er den Besuch des Staatsmannes | |
aus China genauso wie das Leben in Indien im Allgemeinen und seines im | |
Besonderen. | |
Wer den Roman als lupenreine Satire abstempelt, irrt aber ebenso, denn bei | |
aller auftrumpfenden Komik beschreibt Adiga das in Indien gern unter | |
farbenprächtigen Saris versteckte Elend genau. Das greift er keineswegs aus | |
der Luft, weswegen ihm seine Kritiker, wenn sie nicht gleich anfangen, | |
sprachlich Erbsen zu zählen, vornehmlich seinen Realismus vorwerfen. | |
Seis drum: Seine für November geplante Lesereise nach Deutschland und in | |
die Schweiz hat Adiga jetzt abgesagt. Laut der offiziellen Erklärung des | |
Verlags möchte er momentan in Indien an Ort und Stelle sein, um sich den | |
Vorwürfen zu stellen. Seine Abreise nach Europa könnte ihm sonst womöglich | |
als Feigheit ausgelegt werden. | |
Dass ein Autor, der ein solch respektloses und rotzfreches Buch schreibt, | |
vor seinen Kritikern kuscht, ist schwer zu glauben. In einem Interview mit | |
der FR gibt Adiga denn auch übellaunig zu, dass er nicht erpicht auf | |
Deutschland ist, das er aus seiner Studienzeit kennt. Man hielt ihn dort | |
für einen illegalen Immigranten, was sehr unangenehm gewesen sei. Klingt | |
einleuchtend, dass er auch deswegen jetzt nicht kommt. | |
Dass sein Buch provozieren würde, war nämlich sonnenklar, schließlich fühlt | |
sich Halwai weder Anstand noch Höflichkeit verpflichtet. Er sagt einfach, | |
wie es ist, das Leben in Indien. Okay, okay: wie es auch ist. Auf | |
politische Korrektheiten pfeift er jedenfalls frohgemut. Sein Blick auf das | |
Land ist manchmal geradezu naiv, dann aber wieder hinreißend zynisch. Wie | |
es sich für einen Debütanten gehört, hat Adiga auch eine Botschaft. So | |
lässt er Halwai an einer Stelle sagen: "Lass Tiere wie Tiere leben und | |
Menschen wie Menschen. Das ist meine Lebensphilosophie, in einem Satz | |
zusammengefasst." Wer wollte dieser schönen Idee widersprechen? | |
"Der weiße Tiger" gleicht einer mit absonderlichen Begebenheiten gefüllten | |
Wundertüte. Man könnte auch von einer wahnsinnig schrägen | |
Gebrauchsanweisung für Indien sprechen. Adiga blickt seinen Landsleuten in | |
die schwarze Seele, verrät Grundsätzliches übers Kastensystem, das | |
allerorten grassierende Korruptionsunwesen und das Allheilmittel Whisky | |
sowie über den unbändigen Wunsch vieler Inder, in einer Uniform | |
wiedergeboren zu werden. Den ungebremsten Drang nach Höherem verkörpert | |
Halwai prototypisch. | |
Adigas Indien gebärdet sich dabei wohltuend unspirituell, der Ganges ist | |
nur schmutzige Allerweltsbrühe, und selbst der gute Gandhi grinst bloß noch | |
zahnlos von der Wand. Dafür bevölkern jede Menge mit Betelsaft um sich | |
spuckenden Gestalten das Buch, die nichts als Geld und noch mehr Geld im | |
Kopf haben. Es ist eine Gesellschaft, die sich in die mit und die ohne | |
Bauch teilt, wobei die mit Bauch ausstrahlen, dass sie es geschafft haben, | |
auch wenn Adiga nicht verschweigt, dass der Fitnesswahn längst in Indiens | |
Städten angekommen ist. Selbst dort gehört heutzutage in bestimmten Kreisen | |
die mühsam angefressene Wampe wieder weg. | |
Der Roman zehrt nicht zuletzt von den krassen Gegensätzen, die er freimütig | |
umkreist: Herren und Diener, Weiße und Braune, Reiche und Arme, Westen und | |
Osten, New Delhi und Old Delhi, Macht und Ohnmacht, Licht und Finsternis. | |
Zwischen diesen Extremen bewegt sich der weiße Tiger Balram Halwai und | |
schlägt sich seinen ganz eigenen Pfad durch den Dschungel des modernen | |
Indiens. Sein Grundprinzip wie das des Romans ist die Geschwätzigkeit. Er | |
verheddert sich, stößt vom Hundertsten zum Tausendsten vor und tritt schon | |
mal im Gestus eines begnadeten Flunkerkönigs auf. Dann lügt er das Graue | |
vom Himmel herunter, bis nicht nur die Götter vor Zorn rot anlaufen. Am | |
Ende gelangt der tüchtige Schwätzer aber dorthin, wo alle hinwollen: nach | |
oben. Und ganz ehrlich: Wir gönnens ihm. | |
15 Nov 2008 | |
## AUTOREN | |
Shirin Sojitrawalla | |
## TAGS | |
Booker Prize | |
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Indien | |
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