# taz.de -- Roman "Letzter Mann im Turm": Von brutaler Schönheit | |
> Sehnsuchtsort und Zumutung zugleich: Aravind Adigas neuer Roman "Letzter | |
> Mann im Turm" inszeniert die indische Großstadt zeitgemäß und | |
> überzeugend. | |
Bild: Vor drei Jahren erhielt der in Madras geborene Schriftsteller Aravind Adi… | |
In Bombay krachen soziale Gegensätze hart aufeinander: Vor dem Taj Hotel | |
zupfen dicke Frauen ihre Seidensaris zurecht, Kinder stapfen im Müll umher. | |
Klimatisierte Limousinen rauschen an stinkenden Pendlerzügen vorbei. Und | |
während Leprakranke ihre verkrüppelten Arme nach ein paar Rupien | |
ausstrecken, schmiegt sich an den Händen manch eines Almosengebers ein | |
goldener Klunker an den nächsten. | |
Gewiss: Das ist eine alte Geschichte. Sie gehört aber ganz unbedingt zur | |
verwirrenden Wirklichkeit dieser Stadt am Arabischen Meer, an der Westküste | |
Indiens. Bombay, heute offiziell Mumbai, ist das finanzielle Zentrum des | |
Landes. Die Börse befindet sich dort wie der umschlagkräftigste Hafen. | |
Alles dreht sich um Geld und noch mehr Geld. Und die Aussicht darauf lässt | |
Menschen zu vielem fähig werden. Darüber hinaus besitzt Bombay eine gewisse | |
New-Yorkhaftigkeit - nicht nur weil es so anders ist als der Rest des | |
Landes. | |
Es ist auch diejenige indische Stadt, in der Zukunftsträume wie Häuser in | |
den Himmel wachsen. Denn jeder, der, egal woher, dorthin kommt, will etwas | |
aus sich machen: wohlhabend, reich, berühmt oder zumindest satt werden. | |
Jeden Tag strömen Menschen in Scharen in diese mit mindestens 14 Millionen | |
Menschen hoffnungslos überfüllte Stadt, deren Mieten zu den höchsten der | |
Welt gehören. Bombay ist eine Zumutung und ein wahnsinniger Sehnsuchtsort. | |
Der indische Schriftsteller Aravind Adiga, der inzwischen selbst dort lebt, | |
macht ihn zum Schauplatz seines neuen Romans. Vor drei Jahren sorgte der in | |
Madras geborene Schriftsteller mit seinem umwerfenden Debüt "Der weiße | |
Tiger" für Aufsehen und erhielt dafür den Booker Prize. Nach einem | |
Erzählungsband legt er jetzt mit "Letzter Mann im Turm" einen Bombay-Roman | |
vor. | |
## Demütigungen des Lebens | |
Handlungsort ist eine Wohnanlage der indischen Mittelschicht in Vakola, in | |
der Nähe des internationalen Flughafens gelegen. Dort möchte der | |
Bauunternehmer Dharmen Shah Luxusappartements errichten und macht den | |
Bewohnern ein Angebot, das sie nicht ablehnen können. Alle? Nein! Einer, | |
nämlich der letzte Mann in Turm A der Wohnungsgenossenschaft, widersetzt | |
sich mit gandhischer Sturheit. Es ist der 61 Jahre alte ehemalige | |
Physiklehrer Yogesh A. Murthy, von allen ehrerbietig Masterji genannt. Der | |
Witwer lebt im dritten Stock des Hauses und zauberwürfelt, wenn er den | |
Nachbarskindern nicht gerade Nachhilfe gibt, mit Vorliebe an einem Rubiks | |
Cube herum. | |
Beim Deal mit dem Bauunternehmen macht er nicht mit und bringt damit die | |
ganze Hausgemeinschaft gegen sich auf. Diese Gemeinschaft samt ihren | |
äußeren Macken und inneren Nöten stellt Adiga uns nach und nach vor. Etwa | |
die vermeintlich linksradikale Sozialarbeiterin Mrs Rego, den verschlurften | |
Besitzer des nahe gelegenen Internetcafés, Ibrahim Kudwa, oder auch das an | |
sich untadelige Ehepaar Puri und dessen Sohn Ramesh, der das Downsyndrom | |
hat. | |
Sie alle, Hindus, Muslime, Christen mit jeweils eigenem Background, wissen | |
um die Enttäuschungen und Demütigungen des Lebens, schlagen sich mit | |
Krankheiten, Geldmangel und Liebesdingen herum. Adiga nimmt sie abwechselnd | |
in den Fokus, wechselt immer wieder die Perspektive und baut daraus das | |
erzählerische Gerüst des Romans, dessen Handlung sich in nicht viel mehr | |
als einem halben Jahr in der nahen Vergangenheit abspielt. | |
Auf mehr als 500 Seiten erzählt er dabei eine klassische | |
David-und-Goliath-Geschichte - unfassbar, aber nicht ausgedacht. Eine | |
Zeitungsnotiz gab den Anstoß zu dem Roman, sagte Adiga jüngst in einem | |
Interview. Das Buch vibriert geradezu vor Lebenswirklichkeit. | |
## Schmiergeld für jeden Mist | |
Wie schon in dem Buch "Der weiße Tiger" wirft das kein schmeichelhaftes | |
Licht auf Indien, aber diesmal wirkt Adiga in seinem Erzählduktus | |
gebremster, weniger forsch und frech wie noch in seinem Debüt. Auch die | |
Personenzeichnung kommt ausgewogener, anteilnehmender, nicht so satirisch | |
daher. Die täglichen Korruptionen im kleinen und im großen Stil sowie alle | |
sonstigen Schweinereien, die im Namen des Geldes geschehen, resümiert Adiga | |
geradezu unaufgeregt realistisch. | |
Dabei fügte es sich fantastisch, dass der 74 Jahre alte Inder Kisan Baburao | |
Hazare beinahe zeitgleich mit Erscheinen des Buchs in Hungerstreik getreten | |
war, um gegen die alltägliche Korruption im Land aufzubegehren. Zahlreiche | |
Menschen, die es satthaben, für jeden Mist Schmiergeld abzudrücken. | |
schlossen sich den Protesten an. Inzwischen hat die Regierung ihren | |
Forderungen nachgegeben, und das Magazin Outlook India widmete eine seiner | |
jüngsten Ausgaben den neuen indischen Wutbürgern. | |
Adigas Roman, der ein Glossar gut vertragen könnte, trifft also den Nerv | |
der Zeit. Zudem steht er in einer Reihe mit anderen großen Bombay-Romanen: | |
Rohinton Mistrys "Gleichgewicht der Welt" etwa oder Kiran Nagarkars "Ravan | |
& Eddie", dessen Protagonist ebenfalls ein Mietshaus ist. | |
Viele Romane über Bombay zeigen dem Elend der Stadt die komische Schulter. | |
Das blitzt auch bei Adiga auf. Sein Roman offenbart aber einen nicht nur | |
ernsthaften, sondern auch traurigen Kern. In einer durch und durch | |
korrupten Welt steht für den Autor nicht weniger als die Freiheit des | |
Einzelnen auf dem Spiel. | |
Sein Roman zeichnet dabei kein romantisches Bild dieser unglaublichen | |
Stadt. Und trotzdem lässt er sich - wie alle Bombay-Romane - als | |
Liebeserklärung an ihre brutale Schönheit lesen. | |
## Aravind Adiga: "Letzter Mann im Turm". Aus dem Englischen von Susann | |
Urban und Ilija Trojanow. Verlag C. H. Beck, München 2011, 513 Seiten, | |
19,95 Euro | |
13 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Shirin Sojitrawalla | |
## TAGS | |
Indien | |
Roman | |
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