| # taz.de -- taz-Serie (1): Indiens umkämpfte Moderne: Der Fabrikant | |
| > Der Unternehmer Tariq Husain produziert in Indien Zeitungen für die USA, | |
| > Europa und Japan – fast in Echtzeit und zum halben Preis. | |
| Bild: Etwa 400 Grafiker, Texter und Layouter arbeiten bei KSC rund um die Uhr | |
| Delhi taz | In Gurgaon stehen Wolkenkratzer aus Glas, deren Glanz sich mit | |
| Mühe durch den ewigen Dunst drückt. Die vielen Audis in den Straßen sind | |
| weiß, das Handynetz schnell, die Metrostationen sauber. Die Hightechstadt | |
| am Rande Delhis ist einer der modernsten Orte Indiens. Hier will der | |
| Programmierer Tariq Husain retten, was der Fortschritt dahinzuraffen droht: | |
| die gedruckte Zeitung. | |
| Drei Dinge braucht er für sein lebensverlängerndes Angebot: einen | |
| Glasfaseranschluss, der Datenberge zu Druckereien in Antwerpen, Toronto | |
| oder Itzehoe schiebt. Junge Grafiker und Texter, die von Indiens | |
| Universitäten kommen und für die ein paar Hundert Euro im Monat anständiges | |
| Geld sind. Und seine selbst programmierte Software, die so gut ist, dass | |
| große Medienkonzerne ihre Anzeigenwirtschaft komplett über seine Server in | |
| Indien abwickeln. | |
| 2006 machten die kalifornischen San José Mercury News den Anfang, Verlage | |
| kamen hinzu. Seit 2015 erledigt Husain fast die gesamte Produktion für | |
| Schottlands größte Tageszeitungsgruppe SPP und arbeitet für weitere | |
| Medienunternehmen aus den USA und Kanada, Europa, Japan, Australien. 400 | |
| Grafiker, Layouter und Texter beschäftigt er im Dreischichtbetrieb, rund um | |
| die Uhr. | |
| Von der verschwenderisch-aufdringlichen Lässigkeit westlicher | |
| Grafikagenturen hat KCS, so der Name seiner Firma, nichts. Husains | |
| Holzwandbüro sieht aus wie eine alte Arztpraxis, die Angestellten sitzen in | |
| tennisplatzgroßen Räumen ein Stockwerk tiefer. Statt Apple-Bildschirmen | |
| stehen Computer wie in einer Behörde mit Haushaltssperre vor ihnen. Statt | |
| Kombuchalimonade aus Glaskühlschränken können sie sich Wasser ohne | |
| Kohlensäure aus blind gescheuerten Plastikkannen einschenken. Die Decke ist | |
| niedrig, der Kreativgeist muss hier in Callcenteratmosphäre zünden. | |
| Wer so produzieren lässt, kann am Ende Rechnungen schreiben, die nicht halb | |
| so hoch ausfallen wie die von Grafikbüros in Europa oder den USA. Für eine | |
| Branche, deren Auflagenzahlen rasant nach unten gehen, ein | |
| unwiderstehliches Angebot. Husain erstellt für seine Kunden | |
| Wochenendausgaben, Beilagen, Anzeigenseiten, Videos, Websites und Texte. | |
| Nur tagesaktuelle Nachrichtenseiten nicht. „Das wäre zu schnell für uns“, | |
| sagt er. | |
| Noch. Die Globalisierung startete durch, als es möglich wurde, | |
| Kühlschränke, Turnschuhe und Autos zu Centlöhnen in Entwicklungsländern zu | |
| fertigen. Die Industrien Europas und Nordamerikas konkurrierten so mit | |
| Indonesien, Mexiko und China. Die Denkarbeit der Dienstleistungsbranchen | |
| folgte bald. Bosch oder BMW lassen längst in Bangalore Maschinen und | |
| Software entwickeln. Doch nicht alles ließ sich gleich dahin | |
| transplantieren, wo es am billigsten ist. Für manche Jobs muss man da sein, | |
| wo die Firmenzentrale ist, wo die Kunden sind, man muss ihren Geschmack | |
| kennen, ihren Tagesablauf teilen, sofort reagieren können, sein wie sie. | |
| Diese Tätigkeiten waren immun gegen die Standortkonkurrenz. Aber diese Zeit | |
| geht gerade vorbei. | |
| ## Pasadena in Mumbai | |
| 2006 gründete der Amerikaner James Macpherson in Kalifornien die | |
| Lokalzeitung Pasadena Now. Das war ungewöhnlich, denn in den USA ging schon | |
| damals eine Zeitung nach der anderen pleite. Macpherson ließ die | |
| Lokalgeschichten nicht in Pasadena schreiben, sondern von indischen | |
| Journalisten in Mumbai und Bangalore – zu, versteht sich, ortsüblichen | |
| Löhnen. Sie recherchierten per Telefon, Rentner streamten für sie lokale | |
| Pressekonferenzen per Videokamera nach Indien. | |
| „Für die Presse geht’s jetzt nicht mehr um schönes Schreiben, um glanzvol… | |
| Geschichten, es geht ums Überleben“, sagte Macpherson damals. Pasadena Now | |
| hat überlebt, auch wenn Macpherson sagt, dass er seine Zeitung heute nicht | |
| mehr von indischen, sondern von philippinischen Journalisten schreiben | |
| lässt. Zeitgleich mit Tariq Husain hat der ehemalige Reuters-Journalist | |
| Tony Joseph wenige Kilometer entfernt, in der Stadt Noida, ein | |
| Konkurrenzunternehmen aufgebaut: Mindworks Global liefert angeblich Texte | |
| und Layouts für 150 Zeitungen und Websites in Europa und den USA. | |
| Am Mittag kommt Bewegung in Husains Grafikfabrik von Gurgaon. „Die Kunden | |
| schicken immer morgens“, sagt sein Schichtleiter Nanedhra Singh, ein Sikh | |
| mit blauem Hemd und orange leuchtendem Turban. Zum Beispiel jetzt, denn | |
| jetzt ist Morgen in Europa. Wenn in den USA Morgen ist, ist in Gurgaon | |
| Nacht, aber auch dann werden hier Dutzende Menschen sitzen und tippen und | |
| klicken, auch wenn wie jetzt der Strom ausfällt und das Summen der | |
| Klimaanlagen erstirbt. Denn für die Computer gibt es immer Strom, und wenn | |
| es einmal nicht so ist, weil in Delhi die Erde bebt, dann springt Husains | |
| zweite Grafikfabrik in Pune ein. | |
| Das Geschäft von Macpherson und Husain und vernichtet Stellen in den | |
| Industriestaaten. Gleichzeitig schafft es neue. Jedes Jahr kommen neun | |
| Millionen Inder auf den lokalen Arbeitsmarkt. Mehr als eine Million haben | |
| vorher ein Studium absolviert. 2030 wird fast jeder dritte Mensch, der alt | |
| oder jung genug zum Arbeiten ist, Inder sein. Kein Wachstum wird das | |
| auffangen. Die Lohnkonkurrenz wird sich radikalisieren. | |
| An den Wänden von KCS hängen Uhren mit amerikanischen Zeitzonen, über den | |
| Tischen Schilder mit den Namen der Kunden. Platz Nummer 29: Das deutsche | |
| Versandhaus lässt Bilder von Unterwäsche, Gartenmöbeln und Herrenuhren zu | |
| seinem kiloschweren Katalog zusammenschieben. Platz Nummer 45: Ein junger | |
| Mann setzt die Anzeige für den „Car Boot Sale“ des Vereins der Freunde des | |
| Krankenhauses von Ripley, Derbyshire, Nordengland. „8 bis 12 Uhr, 5 Pfund, | |
| keine Händler. Bitte mit schönem Rand“. Car Boot Sale? „Keine Ahnung“, … | |
| der Grafiker. In England war er noch nie. Er googelt. Ein Autoflohmarkt. | |
| Im Juli 2015 kam der Zeitungsverlag mit KCS ins Geschäft, der Autoflohmarkt | |
| ist laut Zähler Auftrag Nummer 335.876 – nur für diesen Kunden. Wenn nötig, | |
| wird bei KCS alles am selben Tag erledigt. Der Autoflohmarkt hat aber bis | |
| morgen Zeit. Korrektur gelesen wird erst in Indien, dann noch mal beim | |
| Kunden. Nur selten kommt etwas zurück, sagt Schichtleiter Singh. „Dass in | |
| Indien Englisch gesprochen wird, ist ein großer Vorteil für uns“, sagt | |
| Husain. Eine kleine Rendite der Kolonialzeit. | |
| Platz Nummer 19: Der Grafiker setzt die Jobmarktbeilage einer Zeitung aus | |
| Essex, Südengland. 24 Seiten, 24 Stunden Zeit. Die Stadtverwaltung sucht | |
| eine Krankenschwester und einen „Early Years Teacher“. 42 Wochenstunden, | |
| Dienstbeginn 1. September. | |
| „Die Idee, in Indien produzieren zu lassen, ist für manche unserer Kunden | |
| zunächst etwas seltsam“, sagt Schichtleiter Singh. Als vertrauensbildende | |
| Maßnahme werden sie nach Gurgaon eingeladen. „Sie sollen sehen, dass hier | |
| auch Menschen arbeiten“, sagt er einen PR-Satz. | |
| Ohne den Lohnvorteil würde niemand auf der anderen Seite des Globus | |
| produzieren lassen. Wie viel er genau an Lohn bezahlt, sagt Husain nicht. | |
| „Man muss gute Leute finden, nicht die billigsten.“ Wer „von einer sehr | |
| guten Uni“ komme und einen hervorragenden Abschluss habe, „kann bei bis zu | |
| 60.000 Rupien“ einsteigen, umgerechnet 800 Euro. Sonst können es auch | |
| 20.000 Rupien sein. „Aber nur am Anfang.“ Dazu zahlt er die Hälfte des | |
| Rentenversicherungsbeitrags von 6 Prozent sowie einen Zuschuss zur privaten | |
| Krankenversicherung und gewährt fünf Wochen bezahlten Urlaub, es gibt einen | |
| kostenlosen Shuttleservice für weibliche Beschäftigten in der Abend- und | |
| Nachtschicht und maximal ein Jahr Elternzeit. Für indische Verhältnisse | |
| kein schlechtes Paket. | |
| Tariq Husain stammt aus einer Dynastie des Druckgewerbes. Sein Großvater | |
| goss Bleibuchstaben, als Indien noch britisch war. Sein Vater importierte | |
| als Erster deutsche Linotype-Hell-Scanner. Im unabhängigen Indien, das mit | |
| importierter westlicher Technologie wirtschaftlich aufzuholen begann, war | |
| er ein Pionier der digitalen Druckvorlagenherstellung. Mit dem Geld, das er | |
| verdiente, schickte er seinen Sohn an die Privatuniversität von Rochester | |
| im Staat New York. Das Studium dort kostet 40.000 Dollar im Jahr. Husain | |
| erwarb einen Abschluss in IT und einen zweiten in Drucktechnik. | |
| ## Alles aus einer Hand | |
| Er ist Teil einer Generation von Indern, die die globale Arbeitsteilung aus | |
| der Kolonialzeit durchbricht. In Europa die industriell-technologischen | |
| Zentren, in den Kolonien Landwirtschaft, Exportabsatz, später die Werkbank | |
| – dieses Verhältnis stellen sie auf den Kopf. Husain bot nicht nur die | |
| Arbeit seiner Grafiker per Internet zu Kampfpreisen an. Er hat früher als | |
| andere verstanden, wie sich die gesamte Kreativproduktion effizient im Netz | |
| organisieren lässt – Auftragsannahme, Entwurf, Druckdatenerstellung, bis | |
| zur Zielgruppenoptimierung der Werbebanner auf den angeschlossenen | |
| Kundenwebsites. Husains Software bietet alles aus einer Hand. Erst ihre | |
| Kombination mit den Niedriglöhnen machte ihn erfolgreich. | |
| An Platz 22 entsteht 7 Scots, die Mitarbeiterzeitschrift eines schottischen | |
| Infanterieregiments. Die Armee hat den Auftrag an einen lokalen | |
| Zeitungsverlag gegeben, der ihn an Husain weiterreichte. „Wir kriegen alle | |
| Daten, das Design ist festgelegt“, sagt der Schichtleiter. | |
| Bei anderen Aufträgen muss KCS selbst Entwürfe gestalten. Indische Grafiker | |
| leben in einer von Schriftzeichen des Hindi geprägten Typografiewelt, | |
| wachsen mit ganz anderen ästhetischen Maßstäben auf. Woher wissen sie, was | |
| Kunden in Schleswig-Holstein, Quebec oder Flandern wollen? | |
| „Bei große Kunden gibt es sowieso feste Standards“, sagt Husain. Im Übrig… | |
| stelle er bevorzugt Leute ein, die im Ausland studiert hätten. „Und wir | |
| schicken unsere Leute zu den Kunden, damit sie sich dort umsehen.“ | |
| Letztlich aber seien dies Übergangsprobleme. „Wir visualisieren für die | |
| Kultur der Kunden. Aber die Kulturen werden gleicher. Es ist eine flache | |
| Welt, in der wir leben.“ | |
| 6 Jun 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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