# taz.de -- taz-Serie (2): Indiens umkämpfte Moderne: Der Missionar | |
> In der größten Demokratie der Welt leben sie als Menschen fünfter Klasse: | |
> die Unberührbaren. Ein Ingenieur will sie befreien. | |
Bild: Anil Kumar absolviert tägliche viele Veranstaltungen in seiner Mission: … | |
DELHI taz | Anil Kumar hat zwei Assistentinnen. Sie sind mit Goldschmuck | |
behangen, die eine trägt an diesem Morgen einen roten Sari, die andere | |
einen grünen, und beide sehen aus, als habe er sie in Bollywood abgeworben. | |
Kumar, Ingenieur, ist Vizedirektor beim größten Stromversorger Delhis. Er | |
hat vier Universitätsabschlüsse, seine Töchter besuchen eine Privatschule, | |
ein Fahrer chauffiert ihn. Und doch steht er ganz unten in der | |
Gesellschaft: Er ist Dalit, ein so genannter Unberührbarer, geboren auf der | |
niedersten Stufe des hinduistischen Kastensystems. | |
Dunst steht in den Straßen der Hauptstadt, und im obersten Stockwerk eines | |
Bürogebäudes hält die Assistentin mit dem grünen Sari ihm ein Schriftstück | |
hin. Kumar, ein freundlicher kleiner Mann Mitte 50, nickt knapp und klappt | |
den Laptop zusammen. „Wir müssen uns beeilen“, sagt er zu seinem Fahrer, | |
der in einer Ecke auf dem Sofa wartet. Es ist April und damit Hochsaison. | |
Der Fahrer nimmt die Tasche und hält die Tür auf. | |
Kumar ist eine Rarität. 200 Millionen sogenannte Unberührbare gibt es in | |
Indien, jeder Sechste im Land. Dalit ist ihre Eigenbezeichnung. Sie stehen | |
noch unterhalb der vierstufigen hinduistischen Gesellschaftsordnung. Das | |
Kastenwesen ist Jahrtausende alt, der Moderne trotzt es völlig | |
unbeeindruckt. | |
## Stigma bis zum Tod | |
Die Verfassung verbietet ihre Diskriminierung. Tatsächlich aber können | |
Dalits vielfach weder Land kaufen noch Wasser aus Brunnen schöpfen, | |
Geschäfte betreten oder Wohnungen mieten. Teils ist es ihnen verboten, in | |
Gegenwart höherkastiger Inder zu sitzen, zu rauchen oder helle Kleidung zu | |
tragen. Nach einem vom obersten Gerichtshof bestellten Gutachtens vom März | |
2014 leben 9,6 Millionen Dalits davon, mit den Händen Latrinen zu leeren. | |
Dalit-Frauen werden weit öfter vergewaltigt als höherkastige Inderinnen. | |
Kastenzugehörigkeit vererbt sich, Aufstieg ist unmöglich. Ein Stigma, bis | |
zum Tod. | |
„Es sei denn“, sagt Kumar, „man verlässt den Hinduismus.“ | |
Kumar gehört Organisationen wie der Lord Buddha Mission an, die den Dalits | |
die Abkehr von ihrer Religion predigen. Der große Dalit-Führer Bhimrao | |
Ambedkar, Stifter der indischen Verfassung, hat es vorgemacht: Er trat 1956 | |
öffentlich zum Buddhismus über. Der kennt keine Kasten. | |
Der 14. April ist der 125. Geburtstag Ambedkars. Überall im Land feiern ihn | |
die Dalits. 50 Veranstaltungen in seiner Buddha-Mission absolviert Kumar in | |
diesem Monat, manchmal fünf am Tag. Heute gibt es einen Empfang in einem | |
Krankenhaus. „Die Dalits sind soziale Analphabeten“, sagt Kumar. „Sie | |
jammern: Ich werde diskriminiert, aber sie bleiben in dem System, das sie | |
unterdrückt.“ | |
## Vollzeitjob nebenher | |
Sein Fahrer rast um eine Kurve, Kumars Telefon purzelt auf den Boden. | |
„Ambedkar hat gezeigt, wo unsere Befreiung liegt“, sagt er. Kumar spricht | |
in ganz Indien vor Dalits und ruft sie auf, dem Hinduismus zu entsagen. Ein | |
Vollzeitjob, neben der Arbeit. Er hält sich an der Tür fest. „Fahr | |
schneller“, sagt er. | |
Als Dalit musste er einst in der Dorfschule ganz hinten sitzen. Gab er sich | |
im Unterricht Mühe, fragten seine Lehrer: „Was soll das?“ Später schaffte | |
er es an eine Ingenieurschule. Am ersten Tag fragen Kommilitonen ihn nach | |
seiner Kaste. Dann verprügeln sie ihn. „Du hast hier nichts zu suchen“, | |
sagen sie. 1980 gründet Kumar eine Dalit-Studentengruppe. Gemeinsam fahren | |
sie nach Kushinagar, den Ort, an dem Buddha starb. Dort treten sie über. | |
„Seitdem bin ich ein anderer Mensch“, sagt Kumar. | |
Über 3.000 Kasten gibt es heute in Indien, etwa 100 davon zählen als | |
„scheduled“, „gelistet“, so die offizielle Bezeichnung für „unberüh… | |
Vier von fünf Indern sind Hindus, bei einer Umfrage des Nationalen Rates | |
für Wirtschaftsforschung (NCAER) gab jeder Dritte zu, „Unberührbarkeit“ im | |
Alltag zu praktizieren. Diese Erfahrung setzt sich fest. „Wir essen jetzt | |
zusammen“, sagt Kumar nach einer Weile bei jedem Treffen, als erwarte er | |
den endgültigen Beweis, dass sein Gegenüber ihn als vollwertigen Menschen | |
akzeptiert. | |
## Streit um Quoten | |
Kumar will die Dalits befreien, indem er dem Hinduismus die Basis entzieht. | |
Der Staat hingegen will ihnen aus der Armut helfen, indem er Studienplätze | |
und Stellen im öffentlichen Dienst für sie reserviert. Doch dies ist | |
umstritten. Immer mehr Gruppen fordern entweder ihre Abschaffung oder ihre | |
Ausweitung auf andere Teile der Gesellschaft. | |
Ohnehin können nur sehr wenige von der Regelung profitieren. Doch allen | |
Dalits wird ihre vermeintliche Bevorzugung vorgehalten. „Ihr kriegt doch | |
sowieso alles umsonst,“ sagten Kumars Professoren. Seine überschäumende | |
Energie ist bis heute gespeist vom ewigen Glauben, sich beweisen zu müssen. | |
Besuchern präsentiert er seine Zeugnisse wie Bilder von der Großwildjagd: | |
Recht, IT, Elektronik, Projektmanagement und so fort. Das Inventar eines | |
Lebens auf der immerwährenden Suche nach Anerkennung. | |
## Übervater Ambedkar | |
Im Krankenhaus ist der Versammlungssaal mit orangefarbenen Blüten | |
geschmückt, Mönche mit roten Wickelröcken begrüßen die Ankommenden. Fotos | |
von Ambedkar hängen über Opferschreinen, sein Antihinduismus hat ihn zu | |
einer Art religiöser Gestalt werden lassen. Wohl 2.000 Menschen sind da, | |
Schwestern und Ärzte in Dienstkleidung, Patienten. Alle sind Dalits. In der | |
zweiten Reihe sitzen buddhistische Mönche, davor die Ehrengäste: | |
Professoren, Politiker, Unternehmer. Die kleine Elite der Ausgegrenzten. | |
Auch Kumars Name steht auf einem Sitz. | |
Der Weg auf diese Plätze war weit. Kumar bewarb sich mit seinem ersten | |
Diplom bei Indiens staatlicher Fluggesellschaft. Beim Bewerbungsgespräch | |
kam die Frage sofort: Welche Kaste? Er sagte, er sei Buddhist. „Sie haben | |
immer den Verdacht, man könne nicht echt sein“, sagt Kumar. Sie fragten | |
nach der Kaste seines Vaters. So leicht ist dem Stigma der Kaste nicht zu | |
entkommen. Für Kumar ist das nicht entscheidend: Der Übertritt zum | |
Buddhismus sei vor allem eine Befreiung von innen. | |
Er bekam den Job bei der Fluggesellschaft nicht, genauso wie später | |
Vermieter abwinkten. Oder Frauen. „Ich sah gut aus, als ich jung war.“ | |
Manche Frauen hätten sich für ihn interessiert. Bis sie erfuhren, dass er | |
als Dalit geboren wurde. Kumar zahlt heute gemischten Paaren Standesbeamte, | |
die Feier, hilft bei der Suche nach Wohnung und Arbeit. Wütende Eltern | |
haben ihn verklagt, angeblich ohne Erfolg. | |
## Fernsehprediger und Sklavenhaltung | |
Im Krankenhaus schüttelt Kumar Hände, Kamerateams filmen die Ehrengäste. | |
Ein Mann im schwarzen Hemd, weißer Hose und Turnschuhen steht am Mikrofon. | |
„Wendet euch ab vom Hinduismus“, sagt er. Kumar schaut zu. In den letzten | |
Jahren sind nur wenige Zehntausend Dalits zum Buddhismus übergetreten. „Sie | |
laden uns immer ein und sagen ja, ja, aber dann machen sie es doch nicht“, | |
sagt Kumar. „Wendet euch ab von der Sklaverei,“ ruft der Mann auf der Bühne | |
und klingt wie ein amerikanischer Fernsehprediger. | |
Karrieren wie die von Kumar gelingen nur in absoluten Ausnahmefällen – | |
meist dank der Quoten. „Die Diskriminierung ändert ihre Formen, wenn man | |
aufsteigt, aber sie verschwindet nicht“, sagt er. In seiner Firma sei er | |
„der Höchstqualifizierte“. Doch bei Beförderungen werde er immer wieder | |
übergangen, zu Preisverleihungen etwa schicke die Firma andere Kollegen. | |
„Sie erkennen meine Verdienste nicht an.“ Doch der Aufstieg ist in seinen | |
Habitus eingewachsen. Teure Anzüge, Autos, Uhren, er kann sie heute mit | |
größerer Selbstverständlichkeit tragen. Nach seiner Kaste fragt ihn so kaum | |
noch jemand. „Und wenn doch, dann kann ich ihn anzeigen“, sagt er. | |
Eine Tanzgruppe bildet auf der Bühne wie Cheerleader zwei Pyramiden. Die | |
Jungs an der Spitze schwenken indische Fahnen. Die Nation ist neben dem | |
Buddhismus das zweite Versprechen der Befreiung, das Ambedkar hinterlassen | |
hat. Die Kaste sei der Feind der Nation hat er gesagt. Die Dalits wollen | |
ein Indien, das nicht religiös ist. | |
## Religion auf dem Vormarsch | |
Doch danach sieht es nicht aus. Seit dem Wahlsieg der | |
hindunationalistischen BJP-Partei 2014 sind die Religiösen auf dem | |
Vormarsch. Sie wollen ein rein hinduistisches Indien, den Säkularismus | |
bekämpfen sie. Muslime geraten unter Druck, kämpferische Dalits wie Kumar | |
gelten als Feinde. Im Krankenhaus sitzt neben ihm der Soziologie-Professor | |
Vivek Kumar, auch er Dalit-Aktivist. Als er am 21. Februar in Gwalior einen | |
Vortrag hielt, schossen radikale Hindus vor dem Saal. Eine | |
Konvertierungsfeier am 18. März in Agra, die Kumar organisierte, musste die | |
Polizei vor einer radikalen Hindu-Miliz schützen. | |
„Die Hindunationalisten wollen, dass die Menschen Hindus bleiben. Aber das | |
ist eine Religion der Sklaverei“, sagt Kumar. Die radikalen Hindus würden | |
immer aggressiver. „Die Regierung ist auf ihrer Seite.“ Er bekommt | |
Drohanrufe und spürt die schleichende Ausbreitung der Religion auch in der | |
Firma: neue Tempel in den Stromhäuschen, Opferschreine in den Büros, | |
Versammlungen religiöser Gruppen. | |
Kollegen haben ihn gefragt, ob er „Anti-Hindu“ sei. „Ja, antworte ich | |
dann“, sagt Kumar. „Aber sie können nichts tun, ich bin ja ihr Chef.“ | |
19 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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