# taz.de -- Die Wahrheit: Nur mit Anmeldung | |
> Um ihre Rendite zu erhöhen, greifen die überfüllten, aber defizitären | |
> Notaufnahmen künftig zu denselben Mitteln wie Billigflieger. | |
Bild: Noch feiner abgestuft als das indische Kastensystem funktionieren künfti… | |
In der Notaufnahme des Krankenhauses der Geplagten Schwestern vom Blutigen | |
Stuhl in Bettenburg-Biestigheim herrscht großer Andrang. Neben Patienten | |
mit offenen Brüchen und verrenkten Gliedmaßen, die im Akkord herangekarrt | |
und im Flur gestapelt werden, begehren auch viele Menschen Einlass, die | |
unter galoppierenden Petitessen wie einem Mückenstich oder leichtem | |
Schnupfen leiden, die langwierige Terminabsprache mit ihrem Hausarzt aber | |
zu aufwendig finden. | |
Natürlich könnte man Simulanten und Übervorsichtige mit guten Worten und | |
Placebos nach Hause schicken, doch weil dem Katholischen Krankenhausverband | |
in Deutschland unlängst aufgefallen ist, dass ihre Hospitäler nur 32 Euro | |
für die ambulante Behandlung eines Notfallpatienten bekommen, aber 126 Euro | |
dafür aufwenden müssen, will man in den defizitären Ambulanzen einen | |
anderen Kurs fahren. | |
## Totgeglaubte erheben sich | |
„Der Patient ist schließlich kein Störenfried, sondern eine Ressource. Es | |
ist unsere Pflicht als Mediziner, Christenmenschen und passionierte Golfer, | |
ihn möglichst ganzheitlich zu kapitalisieren“, erklärt uns der | |
Biestigheimer Krankenhausdirektor Ludwig Hoppe. „Eine Notfallambulanz, in | |
der Patienten nach bloßer Dringlichkeit behandelt werden, ist aus | |
wirtschaftsmedizinischem Blickwinkel jedenfalls unsinnig.“ | |
In der Notaufnahme beugt sich Schwester Aorta derweil über das Mikrofon und | |
preist Lotterielose an. „Hier noch mal dabei sein, hier noch mal | |
mitspielen“, grölt sie in einer Stimmlage, die eher an einen | |
professionellen Schiffsschaukelbremser als an eine examinierte Kranken- und | |
Ordensschwester gemahnt. Sogleich kommt Leben in die blessierte Bande der | |
Wartenden, ein Einarmiger ringt mit einem Blinden, ein Gelähmter macht | |
einem Amputierten Beine und Totgeglaubte erheben sich. | |
Schon nach wenigen Augenblicken sind sämtliche Lose verkauft, zumal sich | |
ein Privatpatient mit Vorkaufsrecht einen ganzen Stapel gesichert hat, | |
während leer ausgegangene Kassenpatienten auf den Schwarzmarkt hoffen | |
müssen, den der Hausmeister unter der Hand betreibt, während er von seinem | |
Trolley aus hochpreisige Spirituosen, Zigaretten und Parfüms verkauft. | |
## Umweg übers Shopping-Paradies | |
Als Gewinne winken Vergünstigungen, für die die Patienten sonst einen | |
happigen Aufpreis bezahlen müssten. So gibt es etwa einen Stehplatz in der | |
Schlange zum „Priority Check-in“, der vom Wartezimmer ohne den Umweg über | |
das Shopping-Paradies für Sanitätsbedarf in den Behandlungsraum führt. Auch | |
ein hochwertiges Anästhesie-Set im Edelstahl-Etui ist dabei oder als | |
Hauptpreis eine Chefarztbehandlung in Fachchinesisch mit Untertiteln. | |
Ein junger Unfallchirurg steckt Schwester Aorta unterdes ein paar Scheine | |
zu. Neuerdings müssen Berufsanfänger nämlich zahlen, um überhaupt operieren | |
zu dürfen. Das Modell heißt „Pay to Operate“ und ist der „Pay to | |
Fly“-Methode der Luftfahrtbranche ähnlich, die junge Piloten für notwendige | |
Flugpraxis zahlen lässt, ohne die sie ihre Lizenz gleich wieder verlören. | |
Ohnehin sollen viele der bei Billigairlines bewährten Verkaufsstrategien | |
nun auch in den Ambulanzen Einzug halten. Wer sich etwa künftig ins | |
Krankenhaus von Frankfurt (Hahn) einliefern lässt, landet tatsächlich in | |
einer Tierklinik im Hunsrück, aus der noch kein Patient je zurückgekehrt | |
ist. Sitzplätze müssen in der Notaufnahme ab Oktober kostenpflichtig online | |
gebucht werden, für Luxus-Upgrades wie Rollstühle oder Bahren werden | |
Zuschläge fällig. | |
## Frühbucherrabatte für Unfallpatienten | |
Patienten, die ihren Unfall im Voraus anmelden, wird dagegen ein | |
Frühbucherrabatt gewährt. Weitere Gratifikationen gibt es, wenn man die | |
wenig frequentierten frühen Morgenstunden für seine Blessuren nutzt. Für | |
Stammkunden aus verletzungsintensiven Branchen soll es Treuepunkte geben, | |
sowie Sondertarife für Gruppenverletzungen, wie sie etwa nach | |
Massenkarambolagen auftreten. | |
Auch dem medizinischen Bodenpersonal stehen Veränderungen ins Haus. Wer wie | |
Schwester Aorta nicht ohnehin schon für Gotteslohn schuftet, wird künftig | |
von einem bulgarischen Subunternehmer beschäftigt, der bislang bloß | |
Mitarbeiter von Großschlachthöfen und Kabinencrews einer beliebten | |
Billigairline gestellt hat. Wer Rinder auseinandersägen kann, so das | |
Kalkül, wird auch mit einer komplizierten Torsionsfraktur klarkommen. Und | |
wer ohne mit der Wimper zu zucken den Airline-Schlangenfraß serviert hat, | |
wird im Zweifelsfall auch vor Krankenhauskost nicht zurückschrecken. | |
Dennoch verwahrt sich Schwester Aorta gegen die Unterstellung, auf ihrer | |
Station würde eine Zwei-Klassen-Medizin betrieben. „Von wegen zwei Klassen. | |
Die Abstufungen sind noch feiner als im indischen Kastensystem. Außerdem | |
haben wir mehr Unberührbare“, sagt die Ordensschwester verschmitzt und | |
verscheucht zwei Schwerverletzte, die ihre Bordkarten nicht lesbar genug | |
ausgedruckt haben. | |
13 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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