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# taz.de -- Die Wahrheit: Arme Pummelmonster
> Zum Ausklang des Hypes hat die Pokémon-Pest die Literatur und sogar die
> Kirchen erreicht. Ein wahrer Bericht aus der irren Welt der Spiele.
Bild: Inzwischen gibt es sogar ein Schutzreservat für die Taschenmonster
Voller Jagdeifer sitzen die Kinder über ihren Büchern und lassen die Finger
über die Zeilen rutschen. Trotz ihrer bewundernswerten Hingabe haben die
Leseanfänger mitunter Schwierigkeiten, dem schwierigen Text zu folgen. Kein
Wunder, die Zweitklässler der Wilhelm-Rattfratz-Grundschule im hessischen
Bad Sandan lesen auf eigenen Wunsch Marcel Prousts „À la recherche du temps
perdu“ im erweiterten Original.
Nur das Rascheln einer Chipstüte und gedämpfte Schieß- und Stöhngeräusche,
die aus den Kopfhörern der Lehrkraft dringen, stören ein wenig ihre stille
Versenkung in die Pokémon-Version des Klassikers. Grundschullehrerin Imke
Hansemeier hat ihre Füße auf das Pult gelegt, knabbert Salzgebäck und jagt
zum Zeitvertreib virtuelle Zombies. Helfen kann die Pädagogin ihren
Schülern leider nicht. Sie selbst spreche kein Wort Französisch und könne
ein Raupy nicht von einem Hornliu unterscheiden, weil sie altmodische
Ballerspiele vorziehe, bedauert die Pädagogin.
„Bei der Monsterjagd schnappen die Kinder die Sprache schon irgendwie auf“,
erklärt sie ihr pädagogisches Konzept und erläutert: „Schon nach kurzer
Zeit können sie jedenfalls im Café Madelaines bestellen, nach dem Weg zur
nächsten Pokéarena fragen oder einen Plausch über die affektive Erinnerung
als Grundlage aller Dichtung halten.“
## Auf der Suche nach der Pokémon-Zeit
„In der französischen Version sind viel wertvollere Pokémon zu finden“,
erklärt der achtjährige Emil den ausgefallenen Lektüre-Wunsch der
Grundschüler, deren Ausgabe den Titel „À la recherche du Bulbizarre perdu“
trägt und von der Jagd auf dieses seltene Geschöpf handelt. „Außerdem
vermag keine Übersetzung die stupende Fotografizität der Proust’schen
Sprache auch nur annähernd abzubilden. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen
würden, ich bin zum Pokéstop in Swanns Welt verabredet.“
Der Siegeszug der Augmented-Reality-App Pokémon GO, mit der virtuelle
Monster per Smartphone in der realen Umgebung gejagt werden können, hat
nämlich längst die Grenzen der physischen Realität durchbrochen. Nicht mehr
nur in Parks, an Denk- sowie Mahnmalen und auf versifften Bahnhofstoiletten
verstecken sich die Manga-Monster, mittlerweile bevölkern die
quietschbunten Viecher auch die Literatur.
Seit ein findiger Verleger mit einer augmentierten Neuausgabe von
Dostojewskis „Schuld und Sühne“, in dessen komplexem Narrativ sich über 1…
Pokémon als Nebenfiguren wie Pikachukoff und Flegmonoff versteckten, die
Bestsellerliste gestürmt hat, herrscht Goldgräberstimmung in der Branche.
Mittlerweile kommt kaum eine Neuerscheinung auf dem Buchmarkt mehr ohne
Pokémon aus, und auch die Klassiker werden nach und nach erweitert. Gebannt
verfolgen seitdem Hunderttausende, zumeist jugendliche Leser, wie sich
beispielsweise Gregor Samsa in einen ungeheuren Parasek verwandelt oder
hetzen mit Käpt’n Ahab das weiße Kyuerem bis ans Ende der Welt.
Die Aufzucht und Hege des digitalen Niederwildes zwischen analogen
Buchdeckeln hält der IT-Spezialist und Pokémon-Rechtler Torsten Neuhoff,
der kürzlich das bundesweit erste Schutzgebiet für virtuelle Tiere in
seiner Datencloud errichtet hat, allerdings für „wenig artgerecht“, auch
wenn ihm eigentlich alles recht sei, was den „irrsinnigen Jagddruck von der
Population“ nehme.
Doch den Schützlingen des selbsternannten Wildhüters Neuhoff, der unseren
Einwand, dass es dieses Kroppzeug in echt doch gar nicht gebe, als
„analogen Speziezismus“ verurteilt, droht weiteres Ungemach. Denn nach den
Verlagen wollen nun auch andere Dinosaurier des Unterhaltungsgeschäfts von
der populären App profitieren.
## Gluraks in der Hand des himmlischen Trainers
Mit branchenüblicher Verspätung haben jetzt sogar die Kirchen ihre Liebe zu
den Pokémon entdeckt und wollen die Monster in ihre frohe Botschaft
integrieren, um sich „an die Kids heranzuwanzen“, wie der
Synodalbeauftragte für Augmented Religion der evangelischen Kirche
freimütig zugibt.
„Sind wir nicht alle arme Gluraks in der Hand unseres himmlischen
Trainers?“, jubeliert Pfarrer Kaspar „Pummeluff“ Schäfer. Und noch bevor
wir heftig den Kopf schütteln können, präsentiert er uns Christoglork, ein
potthässliches Pokémon mit neongrün leuchtenden Stigmata, das jedoch über
beeindruckende Resurrection-Skills verfügen soll und sich zum übellaunigen
Pantokrator entwickeln kann, wenn man das dümmlich grinsende Vieh oft genug
kreuzigt.
Auch in den Parteien wird über einen Einsatz der putzigen Pummelmonster
diskutiert. Vorstöße scheitern bislang aber am Einspruch Sigmar Gabriels,
der in der Politik keine putzigen Pummelmonster neben sich dulden mag.
9 Aug 2016
## AUTOREN
Christian Bartel
## TAGS
Pokemon
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