# taz.de -- Ein Jahr „Pokémon Go“: Der holde Ruf der Taubsis | |
> Vor einem Jahr kam das Smartphone-Spiel Pokémon Go in Deutschland auf den | |
> Markt. Was ist seitdem passiert? Eine subjektive Geburtstagsbilanz. | |
Bild: Weißt du noch, wo du das erste Pinsir fingst? | |
Die Taubsis sind dort draußen, sie warten auf mich. Sie kennen keine Nacht | |
und keinen Tag. Wo sie sind, sind auch die Rattfratze nicht fern, die | |
Wiesors und die Habitaks. Und am Kanal die Quapsels und die Karpadore, und | |
fern im Grunewald vielleicht ein Dragoran. | |
Um dem Ruf des Taubsi zu folgen, muss ich nur die App anschalten: Pokémon | |
Go. Es ist ein Automatismus, wann immer ich das Haus verlasse. Dann legt | |
sich eine Extraschicht über die Welt, nur Eingeweihte sehen sie. | |
Mein Blick auf meine Nachbarschaft hat sich verändert: Dort an der Ecke, da | |
stehen sie immer zu zweit. Der kleine Kiosk, ein Pokéstop, euch bringt er | |
Bier und Balisto, mir bringt er Bälle, Beeren und Beleber. Die | |
Fliegenpilz-Litfaßsäule: eine Arena, meist besetzt vom fiesen blauen Team, | |
und die Ankerklause, weiter den Kanal hinunter, auch. Nie werde ich | |
vergessen, wo ich mein erstes Sichlor fing, wo mir das Tangela schlüpfte | |
und wo das Schlurp. | |
Am 13. Juli ist mein Pokégeburtstag und der von vielen anderen Spielern | |
ebenso. Vor einem Jahr an diesem Tag wurde Pokémon Go vom Spielehersteller | |
Niantic in Deutschland veröffentlicht – ein paar Superchecker hatten es | |
schon früher, weil es am 6. Juli in den USA herauskam. | |
## Nostalgie und Zukunftsverheißung | |
Was damals los war, hatte niemand vorhergesehen. Aber es war die perfekte | |
Melange aus Nostalgie und Zukunftsverheißung: ein Augmented-Reality-Spiel | |
fürs Smartphone, das um eine Figurenwelt gestrickt ist, mit der alle nach | |
1980 Geborenen aufgewachsen sind. Natürlich funktionierte das, und der Hype | |
brachte uns eine lange Woche Sommerloch-Erholung, eine Atempause zwischen | |
AfD-Aufstieg, Syrienkrieg, Brexit, Trump und toten Musikern in diesem so | |
verkorksten 2016. | |
Rund 750 Millionen Mal wurde die App heruntergeladen, in den Anfangswochen | |
soll es bis zu 45 Millionen „täglich aktive User“ gegeben haben. Viele | |
sprangen freilich wieder ab, nach drei Minuten, nach drei Tagen, bei der | |
ersten Durststrecke im Spiel, oder spätestens als es Herbst wurde und die | |
Hände kalt. Doch bis heute ist das Spiel eine der umsatzstärksten Apps. 5 | |
Millionen Spieler sind noch immer aktiv. Täglich. | |
Was ist in diesem Jahr passiert? Als das erste Staunen vorüber war, | |
begannen die Spieler sich zu vernetzen. Sie gründeten Facebook- und | |
WhatsApp-Gruppen für ihre Städte und Viertel und [1][Foren für Spieler aus | |
der ganzen Welt]. | |
Nick aus Long Beach zeigte [2][auf seinem YouTube-Channel] täglich, wie er | |
spielte, mehr als eine halbe Million Menschen haben ihn abonniert. Manche | |
fingen an, das Spiel zu erforschen, sie legten die Mechanismen offen, sie | |
wühlten im Programmcode herum, bauten Live-Karten mit allen Pokémon, | |
debattierten Angriffsstrategien und [3][machten gemeinsam Feldversuche], | |
echte Wissenschaft: Brüte 3.000 Eier. Wirf Zigtausende Bälle. Dokumentiere | |
die Ergebnisse. | |
So wurde das Spiel entzaubert und effizient gemacht. Kein zielloses | |
Herumstreifen mehr, sondern punktgenaues Suchen. Am besten mit dem Fahrrad. | |
Pokémon Go hatte seine Unschuld verloren. | |
## Immer neue Begehrlichkeiten | |
Denn das Spiel ist der Teufel, und der Teufel ist geschickt, er schafft | |
immer neue Begehrlichkeiten. Eigentlich wollte ich nur von jedem Tier eines | |
haben, was eines von mehreren möglichen Spielzielen ist. Doch manche | |
Pokémon gibt es nur in Eiern. Um sie schneller auszubrüten, brauche ich | |
Extrabrutmaschinen. Die kosten Spielgold, das ich in Arenen erkämpfen kann. | |
Aber dafür brauche ich gute Tiere: besonders begabte, besonders | |
hochgepowerte, welche mit besonders guten Attacken. Und muss selbst ein | |
besseres Level erreichen. Was war noch mal mein Ziel? | |
Dazu kommt eine Verknappung, denn der Platz für Pokémon ist begrenzt. | |
Welches Tier schickst du weg, welches behältst du? Könnte das nicht später | |
noch mal nützlich sein? Es gibt immer noch etwas zu optimieren, zu | |
entscheiden, zu pflegen. Als hätte ich nicht schon genug To-do-Listen, | |
unsortierte Fotoalben, ungelesene Artikel. | |
Die Stunden, die ich in Pokémon Go gesteckt habe, darf ich nicht zählen. | |
Und auch nicht, was ich damit hätte machen können. Jonglieren lernen? Eine | |
einfache Fremdsprache? Ehrenamtlich arbeiten? Alles zusammen, | |
möglicherweise. Aber so rechnet man das ja nicht. Es sind immer nur fünf | |
Minuten, nur dieser eine Umweg, nur hier kurz stehen bleiben, nur ein wenig | |
die Pokémon-Box aufräumen. Nur noch fünf Minuten! Wie früher, wenn man ins | |
Bett sollte oder an den Esstisch. | |
Ich hing ohnehin schon lange in etwas fest, das Ökonomen „sunk-cost | |
fallacy“ nennen: Wenn man schon viel Geld oder Zeit für eine Sache | |
aufgewendet hat, neigt man dazu, noch mehr reinzuschießen, damit nicht | |
alles umsonst war. Also machte ich weiter. | |
## Biologie und Schnitzeljagd | |
Und ich machte es gern! Ich zelebrierte es. Wenn ich ein Pokémon zum ersten | |
Mal fangen konnte, schaute ich es mir erst ganz lange an, machte | |
Handyfotos. Als wäre ich ein Biologe. Ich genoss den Schnitzeljagdcharakter | |
des Spiels, entdeckte neue Teile Berlins, fand unbekannte Schleichwege in | |
meiner Nachbarschaft. | |
Dazu kam der Gruppenchat mit anderen Spielern, in den ich geriet. Das ist | |
wie mit allen Suchtmitteln. Man muss nur Leute um sich haben, die genauso | |
sind wie man selbst, um das eigene Verhalten zu rechtfertigen. | |
Okay, klar: Ich bin mit dem Fahrrad im Dunkeln durch den Grunewald | |
gefahren, und als der Boden sandig wurde, habe ich das Rad getragen, nur um | |
ein Pupitar zu erwischen. Und einmal, als ich einen Text schreiben musste, | |
Abgabe in zwei Stunden, und die Kollegen in der Konferenz saßen, bin ich | |
heimlich hinten raus und habe ein Chaneira gefangen, keiner hat es gemerkt. | |
Aber, hey: Snobilikathrin (wir haben pokémonbasierte Chatnamen) legt | |
inzwischen Strecken unter 6 Kilometern nur noch zu Fuß zurück, um Eier | |
auszubrüten. Und Pikangela ist Level 38, die hat viermal mehr | |
Erfahrungspunkte als ich – wie viel Zeit das gekostet haben muss. | |
## Pokékater und Pokédetox | |
Ende November hatte ich tatsächlich alle vorhandenen Pokémon gefangen. Das | |
Spiel stagnierte. Alle paar Wochen gab es Bonusaktionen, bei denen | |
irgendwas verdoppelt wurde oder was Seltenes häufiger wurde. Dazwischen: | |
Pokékater. Die Community wurde unzufriedener. Nick aus Long Beach gingen so | |
langsam die Themen aus. | |
Ich spielte trotzdem weiter, erst Mitte Januar machte ich mal drei Wochen | |
Pause. Pokédetox. Die App hatte ich deinstalliert, sonst wäre es nicht | |
gegangen. Doch im Februar kam die zweite Generation. 90 neue Pokémon. Es | |
war immer klar, dass es sie geben würde, die Originalspieleserie ist schon | |
bei sieben Generationen. Gerechnet hatte ich damit aber erst im Frühjahr. | |
Also wieder raus, wieder jagen. Ich hatte mich durchaus darauf gefreut. Und | |
mit all dem Vorwissen ging es auch viel einfacher. Irgendwann hatte ich sie | |
wieder alle. 233 verschiedene sind es jetzt. Viele von ihnen sind | |
wunderschön. | |
Und jetzt? | |
Im Mai hat sich Nick aus Long Beach von seiner Freundin getrennt und legte | |
eine Woche Pause auf seinem YouTube-Kanal ein. | |
## Mehr Interaktion, weniger Motivation | |
Vor einigen Wochen startete Niantic eine Sommer-Offensive. In Chicago | |
findet am 22. Juli ein Pokémon-Fest statt und es gab ein großes | |
Spiel-Update. Der Weg, Gold zu sammeln, wurde komplett überarbeitet. | |
Außerdem wurde ein neues Element eingeführt, die „Raids“, die die | |
Interaktion stärken soll. | |
Im Pokémon-Gruppenchat berichten die anderen von gemeinsamen Raids mit | |
wildfremden Spielern, von Gemeinschaftsgefühl und Glück. Es funktioniert. | |
Nur bei mir nicht. Ich bin müde geworden. Ich will keine anderen Spieler | |
treffen. Ich habe mein Ziel erreicht, zweimal. Klar, ich könnte weiter | |
optimieren, weitersammeln, mich rüsten für die dritte Generation, die | |
vierte, die fünfte. Aber nicht einmal auf neue Pokémon freue ich mich noch. | |
Die Taubsis, sie rufen mich, jeden Tag. So spiele ich weiter, im | |
Zombie-Modus. Weniger zwar, aber der Automatismus sitzt: beim Rausgehen die | |
App anschalten, unterwegs immer mal checken, was machen die Arenen? Einen | |
kleinen Umweg fahren, dann noch irgendwas fangen. Sind ja nur fünf Minuten | |
oder zehn. Ein kurzer Kick. Danach wieder Leere. | |
125 Milliarden Pokémon wurden weltweit inzwischen gefangen. Rund 6.500 von | |
mir. Darunter 741 Taubsis. Bald – schon morgen, vielleicht! – werde ich | |
Pokémon Go wieder deinstallieren. Vielleicht für immer. | |
Ich hätte jonglieren lernen können oder Dänisch. Ich habe 233 Pokémon | |
gesammelt. Ich bereue nichts. | |
12 Jul 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://www.reddit.com/r/TheSilphRoad/ | |
[2] https://www.youtube.com/channel/UCrtyNMe3xtv3CLg5QR78HzQ | |
[3] https://thesilphroad.com/ | |
## AUTOREN | |
Michael Brake | |
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