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# taz.de -- Zum Ende des Grafikprogramms „Paint“: Der letzte Schrei
> Microsoft wird „Paint“ nicht mehr weiterentwickeln. Fans trauern um die
> Trash-Ästhetik – die bot sogar Potenzial für Partizipation und
> Emanzipation.
Bild: Hätte er gekonnt, hätte Munch bestimmt auch mit Paint gemalt
„Deprecated“ – technisch überholt. So knapp die Begründung, so unverhof…
die Nachricht: Der Softwarehersteller Microsoft verkündete letzten Montag,
er werde mit dem Creators Fall Update, vermutlich diesen Herbst, die
„aktive Entwicklung“ des Grafikprogramms Paint einstellen und es in
künftigen Windows-Versionen wohl nicht mehr anbieten.
„RIP MS Paint 1985–2017“, kritzelten bald viele Fans in das Grafikprogramm
ihrer Herzen und luden das Bild unter dem Hashtag #MSPaint bei Twitter
hoch. „Malware“ bedeutet im Englischen eigentlich Schadsoftware, Deutsch
„Mal-Ware“ ausgesprochen wurde der Begriff nun zur Liebkosung.
Manche stöberten auf ihrer Festplatte aus dem letzten Jahrtausend nach den
Werken ihrer Kindheit. Der englische Schriftsteller Mark Haddon („The
Curious Incident of the Dog in the Night-Time“) gedachte der Software mit
der digitalen Zeichnung eines knuffigen, bebrillten Hunds.
Microsoft roch das Lauffeuer, und so stellte noch vor Abenddämmerung eine
Managerin auf dem Blog des Unternehmens klar: „MS Paint is here to stay.“
Mit so viel Nostalgie der breiten Fanbase habe das Unternehmen nicht
gerechnet, schreibt Megan Saunders. Paint sei weiterhin kostenlos über den
Windows Store zu beziehen, seine Funktionen seien zudem seit April 2017
Teil der neuen App Paint 3D. Microsoft bringt Paint nicht um die Ecke,
sondern versetzt das Programm nur ins künstliche Koma.
Von der Nachricht bleibt: Das Programm MS Paint wird bald nicht mehr aktiv
weiterentwickelt. Nur: Wurde es das jemals?
## Paint lehrte die Bedeutung von Pixeln
Geboren wurde Paint am 21. November 1985 in Windows 1.01, noch unter dem
Namen Paintbrush und der Lizenz der kleinen Softwarefirma ZSoft
Corporation. Sprühdose, Radiergummi und Textfeld waren bereits Werkzeuge
der ersten Version, der Farbeimer kam erst später dazu.
In Windows 95 konnte man seine eigene Farbpalette erstellen und sichern,
seit Windows 98 sind Bilder neben BMP auch als JPEG, GIF und PNG
speicherbar – die anfänglichen Formate MSP sowie PCX (PiCture eXchange)
wurden damit begraben. Mit Windows XP konnte Paint Bilder direkt vom
Scanner oder der Kamera laden.
Mit Paint entstand eine Reihe von Praktiken an der Schnittstelle zwischen
Kunst und Prokrastination: mit der Dose an einen Punkt sprühen, bis sich
der Kreis um den Cursor bis auf den letzten Pixel gefüllt hat. Den
Farbeimer ausschütten, um zu sehen, welche Flächen auf einem Bild exakt
die gleiche Farbe haben und welche Konturen ein Loch haben. Freihändig eine
gerade Linie zeichnen, ohne dass sie in die nächste Pixelzeile springt.
Überhaupt lehrte Paint die Bedeutung von Pixeln, definierte abgeschlossene
Flächen, zeigte Lücken und die Folgen des eigenen Handelns auf: Maximal
drei Arbeitsschritte machte der Pfeil nach links rückgängig; darüber
hinaus ließ sich eine Figur nur schwer wieder löschen, außer man radierte
sie mühsam von der Leinwand.
## Paint war niemals Fake, so wie Photoshop
Das Betriebssystem Vista erlaubte dann gleich zehnmal „rückgängig“
hintereinander. Im Jahr 2007 brachte Microsoft schließlich Windows 7 auf
den Markt. MS Paint kam frisch vom Einkauf im Künstler*innenbedarf, das
Programm hatte nun Pinsel im Kasten, die realistischer malen sollten: mehr
Claude Monet als Miró und Kandinsky. Es war die Abkehr vom radikalen
Pixelismus und vielleicht der Anfang vom Ende.
Paint hatte einen Antagonisten aus dem Hause Adobe bekommen: Photoshop. Die
Oberfläche der Version 1.0 von 1990 ähnelte noch der von MS Paint, bald
aber fiel die Fassade und offenbarte die wahren Absichten von Photoshop.
Bilder sollten der Realität näher rücken, rote Augen „entfernt“ werden.
Aufgedunsene Köpfe konnten nun auf die Körper von Size-Zero-Models gesetzt
werden, und bald bemerkte den Schwindel auch niemand mehr. Der Auftrag
Photoshops lautete Fake. Die Irrealität authentisch erscheinen lassen.
Paint aber war wie das Theater von René Pollesch: Es krabbelt über die
Bühne und schreit sich selbst heraus. Das Programm macht sich selbst und
die Bedingungen des eigenen Schaffens zum Thema, drückt nonchalant ab und
an eine Zigarette auf der Arbeitsfläche aus. Paint tut nie so, als wäre es
die Figur – und nicht in erster Linie die Schauspielerin unter Druck des
neoliberalen Kulturbetriebs. Weg mit der Illusion, her mit dem Rotz! Paint
ästhetisiert keine Form und trägt doch die ganz eigene Trash-Ästhetik.
Immer ein bisschen drüber.
Dabei ist Paints Türschwelle niedrig, das Buch „Paint für Dummies“ wurde
nie geschrieben. Öffnen und loszeichnen, direkte Aktion. Die unmittelbare
Bildbearbeitung, die ehrliche und körperliche: Das Zittern der Maus ist
sofort dokumentiert. Versuchen Sie hingegen mal, in Photoshop ein Bild zu
öffnen und einfach loszukritzeln. Sie werden scheitern an unübersichtlichen
Ebenen und der Suche nach einem Werkzeugkasten, der Sie sprühen, schreiben,
frei sein lässt. Stattdessen bedrängt Sie Photoshop mit zig Möglichkeiten,
Bildflächen auszuwählen.
Auch der Bostoner Illustrator Pat Hines, so seine Geschichte, kam nicht mit
Photoshop klar und begann daher, mit Paint zu arbeiten. Jim aus dem
englischen Bristol nimmt auf seiner Website Jim’ll paint it Aufträge für
Paint-Gemälde entgegen. Und der 2014 im Alter von 98 Jahren verstorbene Hal
Lasko, genannt „Pixel Painter“, lobte an Paint besonders dessen Präzision.
Laskos Enkel Ryan verkauft seine Stillleben und Pixelwälder weiter für 69
Dollar auf seiner Website. Die Gemälde von Pat, Jim und Hal erfahren
Bewunderung, gerade weil sie nicht mehr nach Paint aussehen. Und noch etwas
eint die drei: Sie sind männlich und weiß.
## Paint 3D macht nur eines: ratlos
Dabei bergen Paint und seine Ästhetik Potenzial für Partizipation, gar
emanzipatorische Kraft. Snapchat kopierte das Prinzip, in ein Foto zu
kritzeln; und der entrückte Text, der Bilder zu Memes macht, verquirlt im
besten Fall die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Guten.
Die Fallhöhe zwischen hochauflösender Smartphone-Kamera und pixeligem
Gekrakel wird zur Distinktion, die vermeintliche Wiederbelebung der
90er-Jahre-Ästhetik verweist auf eine Zeit, in der Cyberspace noch eine
demokratische Hoffnung war. Manche beanspruchen diesen Raum zurück, und die
Ironie, ausgemachte Bilder, die Schmollmünder und politischen Possen
einfach zu überzeichnen, ist in guten Momenten auch ein bisschen queer.
Nun also Paint 3D. Wer da schon mal drin war, sah eine Leinwand, vor die
dreidimensionale Formen passen: Junge, Mädchen, Haus, Hund. Die Dimensionen
stehen ratlos nebeneinander wie ein Pfeffersack und eine Käsereibe – ein
Bildschirm hat nur zwei Achsen, x und y. Perspektive und Schlagschatten,
billige Mittel, um das Irreale realer scheinen zu lassen.
Paint 3D lässt ratlos zurück wie der erste Imax-Besuch, bei dem man einmal
kurz erschrak, als T. Rex ein bisschen ins Gesicht brüllte. Microsoft hat
Paint das erste Mal nach 32 Jahren weiterentwickelt, nur leider in die
falsche Richtung.
Die Managerin Megan Saunders schrieb im Blog, Microsoft schläfere Paint
aufgrund der grassierenden Nostalgie nicht ein. Das Gegenteil ist wahr:
Paint ist missverstandene Avantgarde, allzeit bereit, die Wirklichkeit zu
überzeichnen.
27 Jul 2017
## AUTOREN
Fabian Stark
## TAGS
Microsoft
Photoshop
Schwerpunkt Angela Merkel
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Pokémon Go
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Lesestück Recherche und Reportage
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