# taz.de -- Thema Doping bei den Paralympics: Voll mit Adrenalin | |
> Auch im Behindertensport wird professionell gedopt. Intensive Kontrollen | |
> und einheitliche Regelungen gibt es dagegen kaum. | |
Bild: Stefan Nimke (rechts) ist verwundert ob der wenigen Dopingkontrollen | |
Man muss das D-Wort nur einmal erwähnen, schon setzt Stefan Nimke zu einem | |
dreiminütigen Monolog an. Viermal hat der Radrennsportler an Olympischen | |
Spielen teilgenommen, zuletzt 2012. Damals sei er sechs- oder siebenmal im | |
Jahr auf Doping kontrolliert worden, unangekündigt, oft wurde er in seiner | |
Heimatstadt Schwerin aus dem Bett geklingelt. „Jetzt ist das anders, ich | |
werde sehr wenig kontrolliert“, sagt Nimke. In diesem Jahr erst ein | |
einziges Mal. „Das verwundert mich schon.“ Man merkt, dass er nun etwas | |
skeptischer auf das System blickt. | |
Das System, in dem Nimke, 38, unterwegs ist, sind die Sommer-Paralympics in | |
Rio, als Tandempartner des sehgeschädigten Fahrers Kai Kruse. Eine kurze | |
Umfrage unter anderen deutschen Paralympikern macht deutlich: Nimke muss | |
nicht repräsentativ sein, einige Kollegen von ihm wurden in diesem Jahr | |
schon mehrere Male kontrolliert. Und so wirft Nimke eine Frage auf, auch | |
mit Blick auf die internationale Konkurrenz: „Werden im Behindertensport | |
alle gleich und fair behandelt?“ | |
Im Fokus steht der Behindertensport nur während der Paralympics, deshalb | |
konnte eine ernst zu nehmende Debatte über Doping nie etabliert werden; die | |
Anzahl der kritischen Beobachter in Wissenschaft und Medien ist geringer | |
als bei Olympia. | |
„Der paralympische Sport ist nicht besser oder schlechter als der | |
olympische Sport“, sagt Thomas Abel, Professor für paralympischen Sport an | |
der Sporthochschule Köln. „Die Wahrscheinlichkeit, dass Athleten im | |
Behindertensport betrügen, ist genauso groß.“ Dabei dürfte es sich – mit | |
wenigen Ausnahmen – um die gleichen Substanzen handeln. | |
## Das gleiche Spiel, weniger Kontrolle | |
Greifbar wurde das erstmals im Juli, nach der Veröffentlichung des | |
McLaren-Reports über russisches Staatsdoping: Demnach seien zwischen 2012 | |
und 2015 auch 35 positive Proben im paralympischen Sport verschwunden, um | |
russische Athleten zu schützen. Schon während der Winterspiele 2014 in | |
Sotschi waren Gerüchte im Umlauf. Einige Verbände wunderten sich, warum die | |
russischen Paralympiker einen Sonderraum für ihre Tests zur Verfügung | |
hatten. | |
Das Internationale Paralympische Komitee (IPC) schloss Russland von | |
Brasilien aus. Die Resonanz aus Sport und Politik war überwiegend positiv, | |
zumindest in Europa und Nordamerika. Doch was folgt nun daraus? | |
Das IPC ist gut darin, die sportliche und wirtschaftliche Entwicklung | |
seiner Mitgliedsverbände in einem guten Licht darzustellen. In seinen | |
Publikationen und Pressemitteilungen geht es um größere Fernsehreichweiten, | |
mehr Einnahmen, höhere Bestleistungen. Manchmal wird die Dopingsperre von | |
Athleten erwähnt, aber ein wirkliches Problembewusstsein ist nicht zu | |
erkennen. Eine Frage wird zu selten gestellt: Wächst mit der | |
Professionalisierung auch die Versuchung? | |
In Rio sind nun 1.500 Urin- und Blutproben geplant, also dürfte jeder | |
dritte Athlet im Schnitt einmal kontrolliert werden. Bei Olympia war die | |
Quote bei mehr als 11.000 Athleten dagegen gut doppelt so hoch. Das IPC ist | |
ein finanzielles Leichtgewicht im Vergleich mit dem Internationalen | |
Olympischen Komitee. Doch es hat seine Ausgaben für Antidoping vor den | |
Spielen verdoppelt, berichtet IPC-Kommunikationschef Craig Spence. Um wie | |
viel Geld genau es geht, erfährt man nicht. | |
## Mehr Anabolika als EPO | |
Erstmals wird das IPC nun einige Proben zehn Jahre auf Eis legen, für dann | |
modernere Analyseverfahren. Vorher waren es wenige Monate, aus | |
Kostengründen. Etliche Athleten aus Afrika und Asien werden in Rio nun zum | |
ersten Mal überhaupt kontrolliert. Wobei man das Problem nicht nur in | |
Entwicklungsländern verorten sollte, sagt der Leichtathlet Heinrich Popow. | |
Goldgewinner Popow von 2012 über 100 Meter komme bei Wettkämpfen immer | |
wieder mit Athleten ins Gespräch, die aus Mitteleuropa oder den USA | |
stammen: „Wenn ich denen erzähle, dass wir in Deutschland für | |
unangekündigte Proben auch frühmorgens aus dem Bett geholt werden, dann | |
zeigen die uns den Vogel. Das kennen die gar nicht.“ | |
Die Paralympiker unterliegen denselben Regeln und derselben Verbotsliste | |
wie ihre Olympia-Kollegen, doch sie haben es mitunter schwerer, da sie mehr | |
Medikamente einnehmen und diese gut kennen müssen. Die Probenabnahme kann | |
sich bei Sportlern erschweren, die auf einen Katheter angewiesen sind. | |
Andere sind nach Amputationen bei den Tests auf Unterstützung angewiesen. | |
Erstmals kontrolliert wurde bei den Spielen 1984. Halbwegs seriös waren die | |
Maßnahmen erst 2000 in Sydney: Auf 388 Athleten kamen 630 Kontrollen, nun | |
auch im Training. Prompt wurden elf Sünder ertappt, zehn davon im | |
Gewichtheben, meist mit Anabolika für den schnelleren Kraftzuwachs. Das | |
teure Blutdopingmittel EPO wurde selten entdeckt. Doch es gibt Ausnahmen: | |
Noch vor den Spielen in Rio wurde der zweimalige Bahnradgoldgewinner | |
Michael Gallagher aus Australien wegen EPO ausgeschlossen. | |
## Elektroschock am Hoden | |
Auch in Deutschland begann die Professionalisierung spät: Proben werden | |
systematisch seit 1992 erhoben. Eine bemerkenswerte Zu- oder Abnahme von | |
Dopingfällen ist nicht zu erkennen. Die Nationale Antidopingagentur ist | |
seit 2008 für die Trainingskontrollen und seit Anfang 2015 für die | |
Wettkampfkontrollen verantwortlich. Zuvor waren dafür verbandsnahe | |
Mediziner des Deutschen Behindertensportverbandes zuständig, was Zweifel an | |
ihrer Unabhängigkeit aufwarf. | |
Doch selbst wenn IPC oder DBS doppelt so viele Tests anordnen würden: Nicht | |
alle Manipulationen sind nachweisbar: etwa Boosting. Dabei provozieren | |
Sportler mit einer Rückenmarksschädigung eine sogenannte autonome | |
Dysreflexie. Bei Schädigungen ab dem sechsten Brustwirbel aufwärts ist ihr | |
Herzkreislauf stark beeinträchtigt. Durch einen Adrenalinschub können sie | |
Blutdruck und Herzfrequenz dennoch stark steigern und damit auch die | |
Belastungsfähigkeit. | |
In einer anonymen Umfrage des IPC von 2008 gaben 17 Prozent der Befragten | |
zu, Boosting versucht zu haben. Der querschnittgelähmte Kletterer Brad | |
Zdanivsky aus Vancouver sagte der BBC, dass er dazu Elektroschocks benutzt | |
habe, auch am Hoden. | |
Der Forscher Thomas Abel hält eine solche Gewalteinwirkung für die | |
Ausnahme. Wenn überhaupt, dann füllen Athleten ihre Harnblase durch | |
übermäßiges Wassertrinken; so könne der Adrenalinstoß erst im Wettkampf | |
eintreten. Boosting ist seit 1994 verboten, doch bis heute gibt es keine | |
überführten Sünder, es ist nicht nachweisbar. Von den rund 4.300 Athleten | |
in Rio kommen aufgrund ihrer Behinderung etwa 100 für Boosting in Frage. | |
Eine Studie der Uni Münster hat ergeben, dass Doping im Behindertensport | |
vor allem ein Problem der Aufklärung ist: So kann in Kathetern eine | |
Vermischung des Urins mit Darmbakterien Dopingspuren erzeugen. „Wir wollen | |
frühzeitig aufklären“, sagt Karl Quade, Chef de Mission des deutschen | |
Teams. Aber man könne nicht jede Naivität verhindern: Kürzlich wurde ein | |
paralympischer Fußballer für zwei Jahre gesperrt. Er hatte in der Disco | |
eine verbotene Pille eingeworfen. | |
9 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Ronny Blaschke | |
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