# taz.de -- Paralympics in Rio: Und raus bist du | |
> Weil sein Asylantrag noch läuft, darf Ahmad Yasini nicht im | |
> Flüchtlingsteam starten. Sein Rauswurf rückt eine symbolische Geste in | |
> schlechtes Licht. | |
Bild: Der Einkauf ist ein schwieriges Unterfangen: Ahmad Yasini | |
COTTBUS taz | Bei den Herrenschuhen war nichts Passendes dabei. Jetzt steht | |
Ahmad Yasini vor dem Kinderschuhregal in einem Cottbusser Discounter. Am | |
linken Fuß braucht er Schuhgröße 38, am rechten nur Größe 37. Er versucht, | |
in zwei Modelle zu schlüpfen, aber die Schuhe, die sonst Kinder zur | |
Kommunion tragen, sind zu eng für den Fußballen des 28-Jährigen. In einer | |
Woche geht sein Flug nach Rio zu den Paralympics. Für die Eröffnungsfeier | |
braucht er noch Abendgarderobe. | |
Der Einkauf ist ein schwieriges Unterfangen. Yasinis rechtes Bein ist von | |
Geburt an elf Zentimeter kürzer als sein linkes. Die neue Anzughose lässt | |
sich problemlos kürzen, bei den Lederschuhen ist es kniffliger. Schließlich | |
begnügt er sich mit dem allerersten Paar, das er anprobiert hat. Größe 39, | |
Glattleder, schwarz. Sein rechter Fuß schlappt trotz zweier Einlegesohlen | |
noch immer aus dem Schuh. Missmutig trottet der Athlet aus dem Geschäft, | |
doch immerhin: Er ist eingekleidet, die letzte der vielen Hürden vor der | |
Abreise nach Rio scheint genommen. | |
Vierzehn Tage ist das her. Bei der heutigen Eröffnungsfeier in Rio ist der | |
gebürtige Afghane Ahmad Yasini trotzdem nicht dabei. Am Abend nach dem | |
Einkauf bekommt er einen Anruf vom Internationalen Paralympischen Komitee | |
(IPC), später noch eine E-Mail: „Sie sind nicht mehr berechtigt, Teil des | |
unabhängigen Flüchtlingsteams zu sein.“ Yasinis Asylverfahren in | |
Deutschland laufe noch, entscheidendes Auswahlkriterium sei aber seine | |
Anerkennung als Flüchtling. | |
## Englischübersetzer in Kabul | |
„Mit einem Mal ist alles anders. Es fühlt sich beschissen an“, sagt Yasini. | |
Anfang August hatte er die Olympiazusage bekommen. Seine Flüge waren | |
gebucht, die Akkreditierung war ausgestellt. Er sollte in der Klasse der | |
Unterschenkelamputierten, den sogenannten T44, über 100 Meter Sprint | |
starten. Es wäre die Krönung seines Comebacks gewesen. | |
Bevor Yasini im Frühsommer 2015 aus Afghanistan floh, hatte er die | |
nationale Meisterschaft in dieser Klasse über 100 und 400 Meter gewonnen. | |
Der afghanische Verband wollte ihn für die Spiele in Rio nominieren. Doch | |
es kam anders. | |
Yasini lebte damals in Kabul und arbeitete als Englischübersetzer für ein | |
von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) beauftragtes | |
Unternehmen, das Fahrsicherheitstrainings im ganzen Land absolviert. Damit | |
schafft man sich in Afghanistan Feinde, gilt vielen als Kollaborateur des | |
Westens. Vor seiner Flucht muss etwas geschehen sein, worüber Ahmad Yasini | |
nicht spricht. Fortan fühlte er, der anderen beibrachte, sich mit dem Auto | |
aus dem Kugelhagel zu retten, gar einen Panzerfaustangriff zu überleben, | |
sich in seiner Heimat nicht mehr sicher. | |
Er floh über den Iran weiter Richtung Westen und gelangte entlang der | |
Balkanroute nach Deutschland. Die Strapazen der Flucht und die | |
Trainingspause haben den Leistungssportler sehr mitgenommen, er war nicht | |
in Form. Noch im Mai wusste er nicht, ob er überhaupt noch einmal an | |
Wettbewerben teilnehmen wird. | |
## In der Endrunde | |
Zwei Monate später steht er bei den Internationalen Deutschen | |
Meisterschaften in Berlin erstmals wieder auf der Bahn: Das Turnier ist | |
seine einzige Chance, sich noch für die Paralympics zu qualifizieren. Für | |
den Wettkampf hat Yasini sich von seinem reduzierten Hartz-IV-Satz mit | |
Spikes besohlte Schuhe besorgt. Umgeben von Athleten mit | |
Hightech-Prothesen, drückt er seine Füße in die Startblöcke und sprintet | |
los. | |
Auf den ersten Metern hält er das Tempo, dann ziehen die anderen an ihm | |
vorbei. Weit abgeschlagen läuft Yasini ins Ziel und bleibt auch unter | |
seiner alten Bestzeit. Resigniert nimmt er wieder auf der Tribüne Platz, | |
Popmusik schallt durchs Stadion. Er holt sich eine Limo und plaudert mit | |
befreundeten Sportlern. Als er erfährt, dass er es in die Endrunde | |
geschafft hat, ist er perplex. | |
Dass sein letzter Platz tatsächlich für Rio ausreicht, erfährt er Tage | |
später. Er selbst hat es am allerwenigsten für möglich gehalten. Yasini | |
soll einer von drei Geflüchteten weltweit sein, die für das erste | |
Flüchtlingsteam bei den Paralympics starten. Im August gab das IPC diesen | |
Plan bekannt, allerdings noch ohne die Namen der nominierten Athleten zu | |
nennen. Auch bei den Olympischen Spielen im August hatte es ein solches | |
Flüchtlingsteam gegeben, dessen bekanntestes Gesicht die junge, syrische | |
Schwimmerin Yusra Mardini geworden war. | |
## Behörden kooperieren sogar | |
Yasinis Start in Rio schien nichts mehr entgegenzustehen, sogar die | |
Behörden kooperierten großzügig: Damit er als Asylbewerber überhaupt | |
dorthin reisen kann, hat ihm die Cottbusser Ausländerbehörde nach | |
Rücksprache mit dem Brandenburger Innenministerium ein Reisedokument | |
ausgestellt. Eine Seltenheit, heißt es aus dem Innenministerium: „Es hat | |
uns gefreut, das möglich zu machen.“ | |
Bereits im Mai ist Yasini aus der Sammelunterkunft in Bliesdorf nach | |
Cottbus verlegt worden, um dort am Olympiastützpunkt trainieren zu können, | |
was während des laufenden Asylverfahrens ebenfalls eine absolute Ausnahme | |
ist. „Für ein Sporttalent öffnen sich manche Türen schneller“, sagt der | |
Cottbusser Sozialdezernent Berndt Weiße: „Wenn das Schicksal uns einen | |
solchen Spitzensportler vor die Füße spült, wäre es unsinnig, die Chance | |
nicht zu nutzen.“ | |
Ahmad Yasini hat die deutschen Behörden auch schon anders kennengelernt. Im | |
September 2015 traf er in der Erstaufnahme im brandenburgischen | |
Eisenhüttenstadt ein. Die ersten Nächte schläft er bei Temperaturen nahe | |
null Grad in einem Zelt, danach landet der Athlet über Monate ausgerechnet | |
in einer umfunktionierten Turnhalle. Als Yasini dann in Cottbus richtig | |
loslegen kann mit dem Training, spielt seine Achillessehne nicht mit. Er | |
hat starke Schmerzen im rechten Bein. Mehrmals spricht er beim Sozialamt | |
vor, um ärztlich verordnete Massagen genehmigt zu bekommen. Als | |
Asylbewerber steht ihm diese Behandlung nicht zu. | |
## Bedauern beim IPC | |
„Solange er nicht kurz vorm Abnippeln steht, passiert da nichts“, sagt der | |
Leiter des Cottbusser Olympiastützpunkts, Mirko Wohlfahrt, der schließlich | |
Massagen auf eigene Faust organisiert. Er ackert sich mit Yasini durch die | |
vielen Anträge und Papiere. Das hat die beiden zusammengeschweißt. Spricht | |
er über Yasinis Lebensgeschichte, spült es Tränen in die Augen des | |
Sportfunktionärs, der sonst so abgebrüht wirkt. | |
Noch immer hinkt Ahmad Yasini stärker als sonst. Trotzdem hat er bis | |
zuletzt täglich trainiert. Auch am Morgen vor dem Aus für Rio läuft Yasini | |
seine Runden. Die goldenen Zeiger der Stadionuhr stehen auf 9 Uhr, | |
gemeinsam mit seiner Trainingspartnerin zieht Yasini seine Runden vorbei an | |
den leeren Sitzreihen. Sie laufen auf Fußspitzen, hopsen und staksen wie | |
Störche über die Bahn. Erst bei den Sprintübungen steigt Yasini aus. Die | |
Achillessehne soll jetzt nicht reißen, er hat das Training auf ein | |
Mindestmaß reduziert. | |
Für eine Medaille hätte es in Rio sicherlich nicht gereicht, doch das | |
spielt für Yasini keine Rolle. Ihm geht es ums Dabeisein, dem IPC um die | |
Geste und das gute Image. Das Flüchtlingsteam stehe für Mut, | |
Entschlossenheit, Inspiration und Gleichstellung, schreibt das IPC: „Die | |
Athleten sollen dazu beitragen, das Bewusstsein für die Misere von | |
Tausenden Flüchtlingen und Asylsuchenden zu schärfen, die oftmals mit | |
Beeinträchtigungen, vor schwierigen Entscheidungen und Reisen stehen.“ | |
## Keine Ausnahme möglich? | |
Über seine Flucht hatte Yasini dem IPC bereits Interviews gegeben und auch | |
Fotos und Videos beim Training in Cottbus aufgenommen. Während der | |
langwierigen Vorauswahl sei dem IPC nicht aufgefallen, dass Yasinis | |
Asylverfahren noch läuft, erklärt Eva Werthmann, Sprecherin des IPC. „Das | |
hätte nicht passieren dürfen“, sagt sie bedauernd. „Wir hätten ihn gerne | |
mitgenommen.“ Geld habe keine Rolle gespielt. Aber konnte denn das IPC | |
keine Ausnahme machen oder die ausschließlich selbst gesteckten | |
Auswahlkriterien abändern? „Das war nicht möglich“, sagt Werthmann nur. | |
Nun ist Ahmad Yasini ausgerechnet wegen seines Rechtsstatus nicht Teil | |
jenes Teams, das die Statusfrage in Anbetracht von weltweit 65 Millionen | |
Geflüchteten zumindest für das Sportevent ein Stück weit zu überwinden | |
trachtet. | |
## Noch zwei im Team | |
Statt drei Athleten sind es nun zwei: Ein in den USA lebender iranischer | |
Diskuswerfer und ein in Griechenland lebender syrischer Schwimmer, der im | |
Bürgerkrieg sein rechtes Bein verloren hat. Sie werden den heutigen Einlauf | |
der Athleten anführen. | |
Wie es für Yasini weitergeht, ist unklar. Seine Anerkennung als Flüchtling | |
ist alles andere als sicher: Während das Bundesamt für Migration und | |
Flüchtlinge Verfahren von Geflüchteten aus Syrien und vom Balkan besonders | |
schnell bearbeitet, gehört Afghanistan zu jenen Herkunftsländern, die seit | |
vergangenem Jahr mit weniger Priorität behandelt werden. Asyl erhält | |
gegenwärtig nicht einmal jeder zweite. | |
Das IPC versichert, Yasini weiterhin fördern zu wollen, auch ein | |
Prothesenhersteller hat Unterstützung angeboten. Seit der Absage aber | |
quälen Yasini Kopfschmerzen. Sein Training pausiert. Seiner Familie und | |
seinen Freunden in der Heimat hatte er von Rio noch nichts erzählt, das | |
wollte er erst nach seiner Ankunft machen. | |
7 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Andreas Koob | |
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