| # taz.de -- SPD-Kultusminister über Heimat: „Sie huldigen dem Kapitalismus“ | |
| > Mathias Brodkorb ist Anti-Nazi-Aktivist und SPD-Kultusminister in | |
| > Mecklenburg-Vorpommern. Ist sein Heimatprogramm eine Anbiederung an die | |
| > AfD? | |
| Bild: Der Heimatminister: Mecklenburg-Vorpommerns Mathias Brodkorb (SPD) | |
| taz: Ich bin im Westerwald aufgewachsen und meinen Eltern bis heute | |
| dankbar, dass sie mir nicht den hässlichen dortigen Dialekt beigebracht | |
| haben. Nun wollen Sie Niederdeutsch als Zweitsprache in den Schulen | |
| fördern. Muss das sein, Herr Brodkorb? | |
| Mathias Brodkorb: Sehen Sie, da fängt es schon an. Niederdeutsch ist kein | |
| Dialekt, sondern eine Regionalsprache. | |
| Was ist der Unterschied? | |
| Ein Dialekt ist eine örtliche Abweichung von der Hochsprache, eine Mundart, | |
| eine Regionalsprache hat dagegen grammatikalische und etymologische | |
| Besonderheiten, die sich auf eine ganze Region erstrecken – etwa ganz | |
| Norddeutschland. Aber eine Gegenfrage: Warum fanden Sie den Dialekt so | |
| furchtbar? | |
| Ästhetisch ist der fast schlimmer als Sächsisch. Ich finde, die geistige | |
| Enge der Gegend spiegelt sich in dem Dialekt wider. | |
| Ich verstehe Ihre Frage trotzdem nicht. Es hätte historisch auch ganz | |
| anders ausgehen können. Das Niederdeutsche war mal in Nordeuropa eine sehr | |
| weit verbreitete Sprache. Am Ende war es eher ein Zufall, dass sich | |
| Hochdeutsch durchgesetzt hat. Das ist ja keine Frage von Qualität gewesen. | |
| Aber die Entscheidung ist längst gefallen. | |
| Warum dem historischen Zufall huldigen? | |
| Warum machen Sie denn die Niederdeutsch-Förderung? | |
| Da gibt es verschiedene Gründe. Zunächst biografische: Bei uns in der | |
| Familie haben meine Großeltern ganz selbstverständlich Niederdeutsch | |
| gesprochen. Ich habe mich davor im Unterschied zu Ihnen auch nicht geekelt. | |
| Mit neun bin ich nach Österreich zu meinem Vater gezogen und bin in eine | |
| Welt hineingeworfen worden, wo eine Volkskultur samt einer nicht | |
| hochdeutschen Sprache Alltag ist. Da glaubt niemand, höherwertiger zu sein, | |
| nur weil er des Hochdeutschen mächtig ist. | |
| Und die politischen Gründe? | |
| Die Niederdeutsch-Pflege ist bei uns Verfassungsauftrag und Folge der | |
| EU-Charta der Regionalsprachen. 25 Jahre nach der Wende gibt es außerdem | |
| eine Identitätssuche der Menschen. Ein starkes Interesse daran, sich der | |
| eigenen Wurzeln zu besinnen. Das wird natürlich durch die | |
| Flüchtlingsthematik verstärkt. Man kann es sich so lange leisten, sich | |
| nicht zu fragen, wer man ist, wie man eine Selbstverständigung darüber | |
| nicht nötig hat. | |
| Dazu braucht man das Niederdeutsche? | |
| Brauchen tut man es nicht. | |
| Aber es hilft? | |
| Es kann eine Möglichkeit sein, sich seiner selbst zu vergewissern. Sprache | |
| und Literatur repräsentieren auch eine Form von Mentalität. Die ist hier | |
| erkennbar anders als in München oder Köln. | |
| Vergrößern Sie mit Ihrem Heimatprogramm nicht die Integrationsanforderungen | |
| an Flüchtlinge? Die wollten ja nicht nach Mecklenburg-Vorpommern, sondern | |
| nach Deutschland. Und jetzt sollen sie nicht nur Deutsch lernen, sondern | |
| sich auch in einen regionalen Kulturkontext integrieren, weil die | |
| Bevölkerung das erwartet. | |
| Das halte ich für intellektuelle Pseudoprobleme. Wenn bei uns ein | |
| Flüchtling zur Schule geht, muss er derzeit neben dem Deutschunterricht | |
| zwei Fremdsprachen wählen. Die eine wird Englisch sein. Bei der zweiten | |
| kann er sich etwa zwischen Russisch und Französisch entscheiden. In Zukunft | |
| kann er sich auch aussuchen, ob er stattdessen Niederdeutsch macht. Ich | |
| behaupte: Wenn er sich für Niederdeutsch entscheidet, werden seine | |
| Integrationschancen besser sein, als wenn er Russisch lernt. | |
| Niederdeutsch nutzt ihm gar nichts, wenn er irgendwann nach Berlin umzieht. | |
| Das ist eine interessante Perspektive. Würden Sie sich als links empfinden? | |
| Ja. | |
| Ich finde diese funktionalistische Verengung des Humanen bedenklich. Also | |
| nur zu fragen, über welche unspezifischen Kulturtechniken jemand verfügen | |
| muss, um im kapitalistischen Globalzusammenhang vernünftig zu | |
| funktionieren, egal an welche Stelle der Welt der liebe Gott diese | |
| „funktionierende Maschine“ hinsetzt. Vielleicht wollen die Flüchtlinge ja | |
| gar nicht mehr weg, wenn sie erst Niederdeutsch können. | |
| Ihre Niederdeutsch-Förderung ist also eine antikapitalistische Politik? | |
| Das zum gelebten Antikapitalismus zu erklären wäre überzogen. Ich habe nur | |
| gesagt, dass Ihre funktionalistische Position dem Kapitalismus huldigt. | |
| Vielleicht habe ich ja einen Berliner Blickwinkel. So denkt man: Was der | |
| Brodkorb mit seinem Heimatprogramm macht, ist eine Kapitulation vor AfD und | |
| NPD und ihrem Heimatgedusel. | |
| Es liegt natürlich nahe zu vermuten, dass wir damit panisch auf den | |
| AfD-Aufstieg reagieren. Ist aber Blödsinn. Wir haben an diesem Projekt seit | |
| zwei oder drei Jahren gearbeitet, da war von der AfD in dieser Dimension | |
| und Programmatik überhaupt nicht die Rede. Der Landestourismusverband | |
| unterstützt uns, weil Tourismus auch von Unterschieden zwischen den | |
| Regionen lebt. Der Landesjugendring hat in seine Wahlprüfsteine in diesem | |
| Jahr erstmals den Punkt „Heimat“ aufgenommen. Ihrer Logik zufolge müsste | |
| das auch der Landesjugendring wegen der AfD gemacht haben. | |
| Im Landtagswahlkampf heimattümelt es hier in Schwerin auch bei fast allen | |
| außer SPD und Grünen. Die Linkspartei wirbt auf Plakaten mit „Aus Liebe zu | |
| Mecklenburg-Vorpommern“, die CDU mit „Einer von hier, einer für uns“. | |
| Selbst die Grünen werben mit „MV im Herzen“. Daran sehen Sie: Unser | |
| „Heimatprogramm“ ist keine Wahlkampfsache. Deswegen ist es auch nicht auf | |
| den SPD-Plakaten. Im Übrigen halten Sie die von Werbeagenturen erdachten | |
| Claims offenbar für substanzieller als wir Politiker. | |
| Angenommen, morgen geht die taz pleite und ich muss aus beruflichen Gründen | |
| nach Schwerin. Dann fühle ich mich von CDU, Linken und auch Grünen nicht | |
| umworben. | |
| Warum? | |
| Weil man bei der CDU besser von „hier“ ist, um zu kandidieren. Bei Linken | |
| und Grünen: weil ich gern über die Politik des Landes, in dem ich arbeite, | |
| entscheiden, aber M-V nicht lieben würde. Solche Wähler wollen die Parteien | |
| offenkundig nicht. | |
| Ich drehe es mal um: Angenommen, ich ginge nach Berlin. Wenn ich von | |
| Berliner Parteien erwarten würde, dass sie mir das Lebensgefühl von | |
| Mecklenburg-Vorpommern präsentierten, wäre das eine unrealistische | |
| Erwartung. Umgekehrt ist es genauso. Sie sind offenbar ein Linker mit | |
| planetarischem Anspruch – alles muss nach einem Modell funktionieren. Aber | |
| dann unterschiede sich Berlin ja gerade nicht von Schwerin. Wie langweilig | |
| das wäre! Wenn in Australien im Busch ein unberührtes Naturvolk gefunden | |
| wird, steht die gesamte Linke auf, um es vor dem Imperialismus zu | |
| beschützen. Die dürfen nicht Coca-Cola trinken und müssen weiter im | |
| Lendenschurz laufen. Auch wenn der Vergleich jetzt etwas hinkt: Wenn in | |
| Deutschland Trachtenvereine ihre kulturellen Traditionen pflegen wollen, | |
| gelten sie aus linker Sicht plötzlich als rückständig. Das ist doch bigott | |
| – und überheblich. Im Übrigen haben Sie vielleicht auch einen falschen | |
| Eindruck. | |
| Der wäre? | |
| Worum es mir nicht geht, ist – und das unterscheidet unser Programm | |
| deutlich von NPD oder AfD – Mecklenburg-Vorpommern zu einem großen | |
| Kulturarchiv zu machen, wo die Menschen quasi die Archivare sind. | |
| Sondern? | |
| Das Aufeinandertreffen von Modernität und Tradition. Kulturelle Entwicklung | |
| bedeutet eine Adaption bestehender Kulturbestände unter neuen Aspekten. Es | |
| gibt immer Umwandlungsprozesse. | |
| Das ist auch wunderbar intellektuell. Verstehen Ihre Mecklenburger, dass | |
| zur Tradition Neues dazukommen muss? | |
| Natürlich. Etwa wenn ich sage: „Schauen Sie sich Ihre Tracht an. Es ist | |
| nicht wahrscheinlich, dass sich junge Frauen so was im Hochsommer anziehen. | |
| Aber wie wäre es denn, wenn wir mal einen Modewettbewerb machten und | |
| Trachten modern durchdeklinieren würden, sodass sie zu moderner | |
| Alltagskleidung passen und sogar schick aussehen?“ Allen ist klar, dass | |
| heutige Mädchen nicht so rumlaufen möchten, aber man daraus vielleicht was | |
| machen kann. Was ja in München ganz normal ist. | |
| Was ist mit Bayerisch und Fränkisch? Soll das dort auch an Schulen und Unis | |
| gelehrt werden? | |
| Da ich keine Außenpolitik betreibe, äußere ich mich nur zu Dingen, die | |
| Mecklenburg-Vorpommern betreffen. Die Bayern sind klug genug, selbst zu | |
| entscheiden. Für Sie wird sich Folgendes vielleicht ganz schlimm anhören: | |
| Wir haben an der Uni Rostock einen Lehrstuhlinhaber für Niederdeutsch und | |
| in Greifswald zukünftig ein Kompetenzzentrum für Niederdeutsch. Die | |
| Wissenschaftler freuen sich darüber. Sie sagen: Endlich ist Schluss mit | |
| dem Kulturimperialismus. Gut: So drücken sie sich nicht aus, aber so fühlen | |
| sie sich. | |
| 3 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Reeh | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Kultusministerium | |
| Heimat | |
| Mecklenburg-Vorpommern | |
| Migration | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt Landtagswahlen | |
| Schwerpunkt Landtagswahlen | |
| Schwerpunkt Landtagswahlen | |
| Schwerpunkt Landtagswahlen | |
| Mecklenburg-Vorpommern | |
| Universität Rostock | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Politische Philosophie der Einwanderung: „Ein milder Nationalismus ist nötig… | |
| Welche legitimen Forderungen hat jemand, der kein Flüchtling ist, aber ein | |
| besseres Leben will? David Miller über Moral und Migrationspolitik. | |
| AfD-Landesvizepräsident in Meck-Pomm: Ganz weit rechts | |
| Die AfD in Meck-Pomm will Ralph Weber als Vize. Damit sendet die Fraktion | |
| vor der ersten Landtagssitzung ein deutliches Signal. | |
| Kommentar Landtagswahl in Meck-Pomm: Die Erschütterung | |
| Die Wahl in Mecklenburg-Vorpommern weist auf die Stimmung im gesamten Land | |
| hin. Besonders die SPD muss eine neue, soziale Sprache finden. | |
| Die AfD bei der MV-Landtagswahl: Rechte Masseneinwanderung | |
| Nur 500 Mitglieder hat die AfD im Nordosten. Doch aus dem Stand ziehen die | |
| Rechtspopulisten mit über 21 Prozent in den Landtag ein. | |
| Landtagswahl in MV: SPD gewinnt, AfD auf Platz zwei | |
| Laut Hochrechnung bleibt die SPD trotz Verlusten mit 30 Prozent stärkste | |
| Kraft in Schwerin, gefolgt von der AfD. Die Rechten erhalten 21,5 Prozent. | |
| Kolumne Liebeserklärung: Jennifer Rostock for Landtag | |
| Komischer Name, schlechte Musik, aber krasse Attitüde. Kann man am Sonntag | |
| in Mecklenburg-Vorpommern nicht einfach die Band wählen? | |
| Wahl in Mecklenburg-Vorpommern: Der Systemfehler | |
| Nach der Landtagswahl wird Ratlosigkeit herrschen über die Wahlbeteiligung | |
| und den Aufstieg der AfD. Warum das Desinteresse, warum dieser Frust? | |
| Uni Rostock darf Titel nicht verleihen: Kein Dr. Snowden | |
| Das Bildungsministerium in Mecklenburg-Vorpommern lehnt die Verleihung | |
| eines Doktortitels an Edward Snowden ab. Es fehle die „besondere | |
| wissenschaftliche Leistung“. | |
| SPD-Politiker Brodkorb über die NPD: Auf antipolnische Kampagnen gesetzt | |
| Weil ihr die Themen ausgehen, wird die NPD die Ressentiments gegen Polen | |
| verstärken, befürchtet SPD-Politiker Mathias Brodkorb aus | |
| Mecklenburg-Vorpommern. | |
| Thor Steinar-Klage gegen Satirelabel: Storch besiegt Fascho-Fashion | |
| Das von Rechtsextremen gekaufte Modelabel Thor Steinar verliert Nürnberger | |
| Prozess. Gewinner ist die Marke Storch Heinar, die den Kampf gegen Rechts | |
| alles andere als bierernst führt. | |
| SPD-Politiker über Umgang mit Rechten: "Nicht immer mit Auschwitz kommen" | |
| Der SPD-Fraktionsvize in Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb, kämpft | |
| mit Satire gegen Nazis - und stellt Blockaden als richtige Mittel gegen | |
| rechte Demos in Frage. |