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# taz.de -- Historie des Amok in den USA: Ein Symbol der Finsternis
> 50 Jahre ist die erste medial verbreitete Massenschießerei am Campus in
> Texas her, da tritt ein Gesetz in Kraft, das Waffen an Unis legalisiert.
Bild: 1. August 1966: Eines der Opfer von Charles Whitman, das er vom Uhrenturm…
Die Sonne steht fast im Zenit. Knorrige Zedern und Eichen werfen ihren
Schatten auf gepflegte Rasenvierecke, Studenten in Shorts laufen daran
vorbei. Er verströmt Urlaubsflair, der Campus der University of Texas in
Austin. Über einer Szenerie, die etwas von mediterraner Leichtigkeit hat,
thront der Uhrenturm: neoklassizistisch, 94 Meter hoch, 28 Stockwerke, oben
eine Aussichtsplattform. Die Uhr schlägt wie die von Big Ben. „Wann immer
ich diesen Turm sehe, sehe ich ein Symbol der Finsternis“, sagt Brenda
Bell, schaut hinauf und wendet sich bald wieder ab.
Es ist 50 Jahre her, da kam das Leben rings um den Turm zum Erliegen. Am 1.
August 1966 betritt Exstudent Charles Whitman das Foyer des Betonriesen. Er
trägt einen Blaumann, in einer Kiste hat er mehrere Gewehre versteckt,
darunter eines mit Zielfernrohr, wie Scharfschützen des US-Militärs sie
benutzen. Whitman fährt im Aufzug in die 27. Etage, steigt zur Plattform
hinauf, schießt auf Leute, die ihm im Weg stehen, dann verschanzt er sich
hinter der Brüstung und zielt von oben auf alle, die sich unten bewegen.
Seine Opfer nimmt er nach dem Zufallsprinzip ins Visier. Einen
Zeitungsjungen holt er vom Fahrrad. Vor einem Friseursalon trifft er einen
Mann, der, noch im Kittel, aus dem Laden gekommen ist, um sich ein Bild zu
machen. 96 Minuten lang schießt Whitman, bis er selber von einem Polizisten
aus nächster Nähe erschossen wird. In dieser Zeit tötet Whitman 14
Menschen, und hinterher sagen schockierte Nachbarn, dass sie diesem
umgänglichen Typ ein solches Verbrechen niemals zugetraut hätten.
Whitman, 25 Jahre alt, führte eine scheinbar glückliche Ehe. Nach der
Highschool diente er bei der Marineinfanterie, wie Micah Johnson und Gavin
Long, die Schützen, die in den vergangenen Tagen Amok liefen – in Dallas
und Baton Rouge.
Er sei das Opfer seltsamer Gedanken, er wolle sein Geld für die
psychiatrische Forschung spenden, schrieb Whitman in seinem Abschiedsbrief.
In der Nacht vor dem Amoklauf hatte er sowohl seine Frau als auch seine
Mutter durch Messerstiche getötet. Am Tag nach dem Amoklauf wird bei der
Obduktion der Leiche ein Tumor in seinem Gehirn entdeckt, sein
Schwiegervater wird später sagen, dass der Tumor Charlie in den Wahnsinn
getrieben habe.
## Sie war 21 Jahre alt, Studentin
Es ist nicht der erste Massenmord in der Geschichte der USA, aber der
erste, über den Radio und Fernsehen live berichten. Von „mass-shooting“
hören da viele Amerikaner zum ersten Mal.
Auf ihrem Rundgang über den Campus ist Brenda Bell dort angelangt, wo sie
damals saß, als Whitman zu schießen anfing. Vor einem Lehrgebäude direkt
gegenüber dem Turm. Sie war 21 Jahre alt, Studentin der englischen
Literatur. Im zweiten Stock des sandsteinhellen Hauses schrieben sie einen
Test, es ging um Shakespeare: Falstaff. Als es draußen laut wurde, stürzten
alle an die Fenster. Hilflos mussten sie mit ansehen, wie wenige Meter
entfernt, hinter einer Balustrade, ein Polizist tödlich getroffen wurde.
Während die Mutigsten hinausrannten, um zu helfen, blieb Bell gelähmt
hinterm Fenster. „Das war der Moment, der die tapferen Leute von den
verängstigten trennte. In dem Moment begriff ich, dass ich ein Feigling
war.“
Es war, beschreibt sie ihre Gefühle, als wäre ein Raumschiff mit
Außerirdischen vom Mars gelandet. „Es war ein Film, den wir nie zuvor
gesehen hatten.“ Und aus heutiger Sicht sei es ein Film, der einem
bedrückend vertraut vorkomme. „Da ist der Kerl, der es getan hat. Aus
irgendeinem Grund ist er sauer. Da sind seine Opfer, in der Blüte ihres
Lebens niedergemäht. Und irgendwann blättern wir die Seite um. Es ist immer
dasselbe, es ist so deprimierend vertraut.“ Bell hat häufig über das
Massaker geschrieben, meist für die Zeitung Austin American-Statesman, bei
der sie als Journalistin arbeitete. Darüber zu schreiben, sagt sie, sei
ihre Art gewesen, zu verarbeiten.
Das Chaos, die Suche nach einem Tätermotiv – „Der alte Film“, sagt Brenda
Bell. Alle paar Monate, in letzter Zeit alle paar Wochen, taucht irgendwo
in den USA ein Amokläufer auf. Dem folgt die Ratlosigkeit der Politik, die
Unfähigkeit, in einem zerrissenen Land entschieden zu handeln. Auch diesen
Film hat sie schon gesehen. Wenn Präsident Barack Obama auf einer
Trauerfeier zur Nation spricht und strengere Waffengesetze anmahnt, muss
sie an Lyndon B. Johnson denken. Auch der forderte den Kongress 1966 vom
Oval Office aus auf, strengere Waffenparagrafen zu erlassen, so vergebens
wie heute Obama.
## „Es hat den Mythos verstärkt“
Brenda Bell zeigt auf die dritte Etage des Hauses, in dem sie damals den
Shakespeare-Test schrieben. Von dort oben, erinnert sie sich, wurde auch in
die andere Richtung gefeuert, in Richtung Turm. Bürger eilten herbei, um
die Plattform unter Beschuss zu nehmen. Die Polizei war schlecht
ausgerüstet, ihre Beamten besaßen Pistolen, keine Gewehre, deren Kugeln
fünfhundert Meter weit fliegen konnten. Das Schießen übernahmen Texaner mit
Flinten, mit denen sie sonst auf die Jagd gingen. „Das hat die Opferzahl
niedrig gehalten, hieß es dann schnell“, erinnert sich die 71-Jährige. Der
Schütze, argumentierten die Waffenfreunde, hätte noch mehr Unheil
angerichtet, hätte es nicht Kugeln aus den Gewehren tapferer Bürger
gehagelt, irgendwann so dicht, dass es Whitman nicht mehr wagen konnte, den
Kopf über die Brüstung zu heben.
Bell erinnert sich noch gut daran, wie gespalten die Öffentlichkeit
seinerzeit war. Es gab Waffenbesitzer, die sich von ihrem Arsenal trennten.
Es gab welche, die sich bestätigt fühlten. „Die Guten dürfen den Bösen das
Feld nicht überlassen, das waren die Sprüche. Es hat den Mythos nur noch
verstärkt.“
Auch in dieser Hinsicht hat sich bis heute nichts geändert: Am zweiten
Sonntag im Juni 2016, nachdem der Attentäter Omar Mateen in der Nacht zuvor
in einem Schwulenclub in Orlando 49 Menschen ermordet hatte, ging in Austin
ein Radiotalker namens Michael Cargill auf Sendung, um im Ton felsenfester
Gewissheit den Kurs abzustecken: „Lasst uns diese waffenfreien Zonen
endlich aushebeln, damit wir uns ausnahmslos überall wehren können!“
Cargill, Armeeveteran und Afroamerikaner, beginnt seine Sonntagsshow stets
mit denselben Worten: „Lobet den Herrn und reicht die Munition rüber!“
## Bitte keine Erinnerung
Brenda Bell hat den Turm einmal umrundet, ein Teich kommt in Sicht, ein
winziger, von Schildkröten bevölkerter Tümpel, an dessen Ufer eine kleine
Bronzetafel an „die Tragödie des 1. August 1966“ erinnert. Ohne Namen zu
nennen. Demnächst soll eine neue Tafel enthüllt werden, diesmal mit den
Namen der Opfer – in einer entlegenen Ecke abseits der Studentenlaufwege.
Die Hinterbliebenen mussten hart dafür kämpfen, die Leitung der Uni tat
sich schwer, grünes Licht zu geben. „Man spricht nicht gern über die
Sache“, weiß Gary Lavergne, ein Hobbyhistoriker, der ein Buch über Whitmans
Amoklauf geschrieben hat. Die Universität sei eine der besten des Landes,
sie wolle keine negative Publicity, sie wolle Unangenehmes lieber
vergessen. Ein Mahnmal, so sieht es Bell, könnte die „verrückte Fraktion
der Republikaner“, die in Texas zurzeit das Sagen habe, als indirekten
Aufruf zur Waffenkontrolle interpretieren. „Es gibt eine Million Gründe,
warum sie kein größeres Denkmal wollen.“
Dafür [1][tritt am 50. Jahrestag des Massakers in Texas ein Gesetz in
Kraft], das Brenda Bell prägnanter als mit Worten mit einer eindeutigen
Geste kommentiert. Spricht man sie auf die „Campus-Carry-Novelle“ an, tippt
sie sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand an die Stirn, genauer gesagt,
sie bohrt den Zeigefinger in die Stirn, mehrfach hintereinander. Campus
Carry, das bedeutet, dass Studenten und Lehrkräfte künftig Waffen tragen
dürfen auf dem Areal einer texanischen Universität. Sogar im Hörsaal darf
man mit einer Pistole sitzen, vorausgesetzt, sie ist unter Jacke, Bluse
oder Hemd verborgen. Und vorausgesetzt, man hat einen Waffenschein.
Susannah Plocher hat das Café Juan Pelota ausgesucht, um über das
Campus-Carry-Gesetz zu reden. Das Café gehört dem einstigen Radprofi Lance
Armstrong, hinten werden Fahrräder montiert, vorn wird Espresso gebrüht.
Im Juan Pelota wirkt Austin exakt so, wie es sich selber gern sieht: cool
und lässig, eine liberale Enklave im sehr, sehr konservativen Texas.
Plocher, 28 Jahre alt, hat in Austin Sozialpädagogik studiert. Sie stammt
aus Washington, und manches, was ihr in der Provinz auffällt, beschreibt
sie wie eine neugierige Anthropologin fremde Gefilde. Warum es nichts wird
mit der Waffenkontrolle? „Es liegt am amerikanischen Individualismus“, sagt
Plocher. „Die Leute reagieren allergisch, wenn sie glauben, dass ihnen die
Regierung vorschreiben will, wie sie zu leben haben.“ Werde Waffenbesitz
eingeschränkt, komme die Frage: Und welche Freiheit nehmt ihr uns als
Nächstes?
Manchmal klingt es nach Resignation, wenn Plocher über ihre Erkenntnisse
spricht. Vielleicht liegt es auch an einem Erlebnis, das sie kützlich im
Zentrum von Austin hatte, auf der East 6th Street, wo sich Bar an Bar
reiht, sodass der Volksmund nur von der „Dirty Sixth“ spricht: Ihr
Verlobter sah, wie ein Mann in Motorradkluft durch die Menge ging, ein
halbautomatisches Gewehr des Typs AR-15 im Anschlag. Als sie einen
Polizisten alarmierten, quittierte der es mit einem Achselzucken:
„Willkommen in Texas!“
Zwei Tage nach dem Rundgang über den Campus – inzwischen tötete Micah
Johnson in Dallas fünf Polizisten – schickt Brenda Bell eine E-Mail: Da
mache sich ein Reporter auf den Weg, um über ein Schusswaffenmassaker zu
schreiben, und seine Recherche wird unterbrochen durch das nächste
Massaker. Vielleicht, schreibt sie, wäre das der Aufhänger.
1 Aug 2016
## LINKS
[1] /Neues-Gesetz-in-Texas/!5328497/
## AUTOREN
Frank Herrmann
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