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# taz.de -- Hinterbänkler Gregor Gysi: Linker Liebling hält nicht still
> Er war lange das Gesicht der Linkspartei. Seit Oktober 2015 ist Gysi
> nicht mehr Fraktionsvorsitzender. Er sucht neue Aufgaben, die alten
> ähneln.
Bild: Gregor Gysi bei seiner letzten Rede als Fraktionsvorsitzender der Linke, …
BERLIN/BAD GODESBERG taz | „Darf ich Ihnen meinen Lieblings-Gysi-Witz
erzählen?“, fragt ein Mann. „Ja“, sagt Gregor Gysi. Er steht an einem
Samstag im Juni vor dem ehemaligen Pionierpalast in Berlin-Köpenick, wo er
gerade eine Rede vor herausgeputzten 13- und 14-Jährigen und deren Eltern
gehalten hat, die an diesem Tag Jugendweihe feiern. „Kommt einer rin in den
Bundestag. Mit Maschinenpistole und brüllt: ‚Wer von euch ist Gysi?‘ Alle
Abgeordneten zeigen auf Gysi: ‚Der da.‘ ‚Duck dich!‘, schreit der
Bewaffnete. Rattattattatt.“ Der Mann strahlt, Gysi lacht höflich.
Der Witz kursierte bereits Anfang der 1990er, als Gysi die Partei des
Demokratischen Sozialismus, PDS, erstmals in den Bundestag führte. Ein
Ausnahmepolitiker, scharfsinnig und wortgewandt, dem auch Leute zuhörten,
für die die PDS eine Partei der roten Socken war. Ein Vierteljahrhundert
hat Gysi dieser Partei in unterschiedlichen Rollen gedient. Vor neun
Monaten hielt er seine letzte Rede als Fraktionsvorsitzender der Linken im
Bundestag.
Seit Oktober 2015 führen Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht die
Fraktion, es läuft besser als erwartet. Und Gysi?
Anfang Juni, Café Schoeneweile, Gysis Wahlkreis im Osten Berlins. Er komme
gerade von der Reederei Riedel, beginnt er zu erzählen, die einen neuen
Anleger am Spreeufer will. Zuvor war er in einer Notunterkunft für
Flüchtlinge. Morgens habe er für einen Mandanten im Landgericht zu tun
gehabt. Der Termin im Café ist sein vierter, abends ist er zu einem Festakt
zum 500. Jubiläum des Reinheitsgebots des Biers eingeladen. „Ich soll mich
dafür einsetzen, dass TTIP nicht das deutsche Reinheitsgebot verletzt,
spannend nicht?“
## „Für einen Angler hat er extrem viel geredet“
Gysi ist Festredner, Talkshowgast, Anwalt, Moderator und Abgeordneter. Und
er schreibt an seiner Biografie, genauer: Er diktiert sie. Stille füllt er
mit Worten, die Tage nach der großen Politik mit Terminen. Sein Kalender
ist voll bis zum Jahresende: „Allen, die mich für 2016 anfragen, schreibe
ich, ich schaff’s nicht mehr. Schluss.“
Als Gysi 2015 den Fraktionsvorsitz abgab, kündigte er an, er werde jetzt
erst mal ganz viele andere Sachen machen. Das hatte er auch dem
Linkspartei-Abgeordneten Jan Korte bei einem gemeinsamen Angelausflug
versichert. „Wir saßen auf unseren Stühlchen, schön an der Ostsee“,
berichtet Korte. Gysi, der Angelneuling, habe seine Wattwürmer aufgespießt
und sich geschickt angestellt. „Für einen Angler hat er zwar extrem viel
geredet, aber für Gregor Gysi extrem wenig.“ Gysi fing ein paar Fische, und
Korte schlug vor, man solle doch zusammen öfter Angeln gehen. Aber es blieb
bei diesem einen Ausflug. Denn Gysi hat keine Zeit.
Warum tut er sich das dann an, mit 68 Jahren, wenn andere sich in den
Kleingarten zurückziehen? Gysi zitiert seinen Fahrer, der glaube, die
vielen Abendtermine nehme er an, weil er zurzeit allein lebe. Gysi sagt, er
sei ein grottenschlechter Neinsager. Und das Rampenlicht? „Das genieße ich
auch ein bisschen.“
Einsamkeit, Pflichtgefühl, Eitelkeit – alles Gründe. Aber nicht die
einzigen. Denn all die Vermerke in seinem Terminkalender füllen ihn nicht
aus. „Den Leuten hier“, er meint die Treptow-Köpenicker, die ihn zuletzt
2009 direkt in den Bundestag wählten, „muss ich erklären, welche Rolle ich
im Bundestag spiele.“ Welche? „Irgend ’ne Art von Rolle.“
## Gysi gehört Europa
Bei seinen Nachfolgern hatte er sich erkundigt, was sie in der Fraktion mit
ihm planten. Bartsch und Wagenknecht hatten es nicht eilig, sich
zurückzumelden, also schickte er einen Brief an alle fünfzehn Mitglieder
des Fraktionsvorstands. Er hätte ihn auch an die Türen des Bundestags
nageln können. Journalisten erkundigten sich bei Bartsch und Wagenknecht.
Nach einem Treffen der drei einigten sie sich: Gysi wird für Europa
zuständig. Die Parteispitze will ihm im Dezember für den Vorsitz der
Europäischen Linken nominieren. Außerdem hält er sechsmal im Jahr eine Rede
im Deutschen Bundestag.
So wie in der Debatte am 22. Juni zum 75. Jahrestag des Überfalls auf die
Sowjetunion. Es ist bereits die zweite Rede, die Gysi in diesem Jahr im
Plenum hält. Er setzt sich auf seinen neuen Stammplatz – hinten links, wird
dann aber vom Genossen Korte in die zweite Reihe gleich hinter Sahra
Wagenknecht geholt. Die Fraktionschefin ist heute nur Zuhörerin. Nach der
Debatte schlendert Gysi zum Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Anton
Hofreiter, und lotst ihn auf eine der Rückbänke. Da sitzen sie, der Saal
ist leer, auch Sahra Wagenknecht ist längst draußen. Wie früher.
Der Fraktionschef a. D. braucht eine Plattform in der Politik. Nicht nur,
weil die Leute das seiner Meinung nach von ihm erwarten. Sondern weil seine
anderen Rollen nur dann gut funktionieren, wenn Gysi Politiker und
Aushängeschild der Linken ist. Er kann nicht raus aus seiner Paraderolle.
Das ist sein Dilemma. Und das seiner Partei.
## „Mein Gott, der ist ja winzig“
Bad Godesberg am Rhein. Der Internationale Club La Redoute logiert in einer
spätbarocken Villa. Heute kommen ehemalige Botschafter oder deren Witwen
sowie mittelständische Industriemanager. Die Männer tragen
Manschettenknöpfe, die Frauen Perlenketten, das liberal-konservative
Bürgertum ist unter sich.
Das Thema der Abendveranstaltung für geladene Gäste lautet: „Die Lage im
deutschen Parteiensystem und die Rolle der Linken“. Es redet: Dr. Gregor
Gysi. Ja, er sei der erste Politiker der Linken, den man jemals eingeladen
habe, bestätigt Hubertus von Morr, Botschafter a. D. und Generalsekretär
des Clubs.
Eine halbe Stunde vor Beginn ist es rappelvoll. Sie habe sich mehrere
Monate im Voraus angemeldet, sagt eine ältere Dame, Clubmitglied, die es in
die erste Reihe geschafft hat. „Ich will den mal sehen.“ Und dann kommt
Gregor Gysi. Sie dreht den Kopf: „Mein Gott, der ist ja winzig.“
Die Präsidentin Alexandra Gräfin Lambsdorff, eine Frau mit scharfen blauen
Augen, stellt Gysi vor und versucht ihn, vielleicht weil er etwas
verschreckt guckt, aufzumuntern. Die Zahl der Anmeldungen sei wie schon
beim Gast des Vormonats, Ungarns Regierungschef Victor Orbán, exzeptionell
hoch.
Als Gysi ans Rednerpult tritt, versucht er es zunächst mit einem Witz: „Und
ich dachte, ich bin bei der Linken-Basisgruppe.“ Laues Lachen. Dann redet
er über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, über Syrien, das
Völkerrecht, die Eurokrise, über Griechenland und den Rechtsruck in Europa.
Er spricht frei, springt etwas erratisch zwischen den Themen und nach
vierzig Minuten sagt er etwas zu den deutschen Parteien, die ja alle ein
bisschen langweilig seien.
Ein Bonner Politikprofessor fragt süffisant, ob es Herrn Gysi nicht
irritiere, dass trotz all seiner Überzeugungskraft kein einziges Mal
geklatscht wurde. Auf Gysi wirken die Widerworte wie ein Lebenselixier: Die
Wangen röten sich, die Augen funkeln, endlich kann er seine
Schlagfertigkeit ausspielen.
Menschen brauchen von klein auf die Spiegelung im Gegenüber. Gysi braucht
Reaktionen, die ihn herausfordern. Als stummen Zuschauer sieht er sich
nicht und geht deshalb auch selten in Fraktionssitzungen.
## Linke Bundesregierung
Nach Bonn ist er nicht gefahren, um Wählerstimmen für künftige
Bundestagswahlen zu fischen. Die Fünfprozenthürde war hier für die Linke
bislang immer zu hoch. Er will eher für die richtige Stimmung sorgen. „Wenn
die Linke in die Bundesregierung käme, würden diese Leute nicht mehr vor
Schreck auswandern.“
Linke in der Regierung? Gysi glaubt, dass 2017 ein guter Zeitpunkt wäre.
Und er glaubt, dass es gut wäre, dabei zu sein.
„Ich will meinen Beitrag dazu leisten, dass die EU gerettet wird, dass der
Aufstieg der AfD gestoppt wird. Und dazu gehört, dass man die Union auf
Bundesebene in die Opposition schickt“, sagt er. Seine Aufgabe sehe er
darin, in Richtung Rot-Rot-Grün Druck zu machen.
Deswegen überlegt er, ob er 2017 wieder für den Bundestag kandidiert. „Wenn
diese Konstellation tatsächlich möglich wird, könnte die Frage kommen:
Warum bist du nicht dabei und hilfst nicht? Sonst wird das doch nichts“,
sagt er im Café Schoeneweile.
Einige fänden das super. Caren Lay zum Beispiel, die in den Bundestag kam,
als Gysi alleiniger Fraktionsvorsitzender wurde. „Er ist einer der
beliebtesten Politiker, die wir haben, und ich wünsche mir, dass er wieder
kandidiert und dann auch auf Parteitagen spricht“, sagt sie. Die
Stellvertretende Parteivorsitzende der Linken sitzt in einem Café an der
Berliner Karl-Marx-Allee vor einem Bildschirm, auf dem gleich die
Fußball-EM übertragen wird. Zuvor kommt aber noch die „Tagesschau“ – mit
Gregor Gysi, der in Karlsruhe zum Thema Europäische Anleihepolitik
interviewt wird.
Andere äußern sich weniger euphorisch. Sahra Wagenknecht hatte verhindert,
dass er auf dem Parteitag im Mai auf die Rednerliste gesetzt wurde. Gysi
hatte ja auch jahrelang verhindert, dass sie seine Kovorsitzende in der
Fraktion wurde. Erst als er abtrat, bekam sie, die kluge, nach außen
distanziert wirkende Frau, ihre Chance. Populäre Wagenknecht-Witze sind
bisher nicht im Umlauf. Auf Gysi angesprochen, antwortet Wagenknecht bei
einem Pressefrühstück im Bundestag: Natürlich freue man sich über jedes
aktive Mitglied. „Aber natürlich respektieren wir auch seine Entscheidung,
sich aus der ersten Reihe zurückzuziehen.“ Das klingt wie: Bleib, wo du
bist.
Ob Gysi wieder für den Bundestag kandidiert, will er während des Urlaubs in
Griechenland entscheiden, wo er seinen Sohn, die Schwiegertochter und den
Enkel besucht, fernab der Genossen. Er bespricht das mit der Familie und
mit der Exfrau.
„Wenn ich an Stelle meiner Nachfolger wäre, würde ich mir auch wünschen,
dass Gregor Gysi aufhört“, sagt er selbst. Es klingt wie ein Ansporn. Denn
er kann sehr stur sein. „Dann wirst du mich ja nicht los.“
21 Jul 2016
## AUTOREN
Anna Lehmann
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