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# taz.de -- Britische Musikerin Kate Tempest: An der Tür zum Ausweg kratzen
> Gelegentlich überladen, immer intensiv: Kate Tempest tobt sich richtig
> aus – als Rapperin, Lyrikerin und als Romanautorin.
Bild: Multitalent Kate Tempest – hier am Mic unterwegs
„Europe is lost, America lost, London is lost.“ In ihren Songs prangert
Kate Tempest mit großer Geste den Ausverkauf von Werten an. Doch Kate
Esther Calvert, die sich nach dem Shakespeare-Stück „Der Sturm – The
Tempest“ benannt hat, macht nicht nur politischen Rap. Sie ist auch
Theaterregisseurin und Lyrikerin, weshalb manche in der Musikszene ihr
einiges an street credibility absprechen. In Wahrheit aber bringt derzeit
kaum jemand so leicht high und low culture der gesprochenen Sprache
zusammen wie die 31-Jährige. Längst auch als Schriftstellerin.
HipHop war die erste Kunst, die das Multitalent sich aneignete, in
Brockley, Südostlondon, wo Kate Tempest aufwuchs. Das Viertel steht auch im
Mittelpunkt ihres Debüts als Romanautorin, unter dem Titel „Worauf du dich
verlassen kannst“ liegt es jetzt auch in deutscher Übersetzung vor.
Zweisprachig auf Deutsch und Englisch erschienen ist soeben zudem ihr
Lyrikband „Hold Your Own“, der in Großbritannien schon 2014 herauskam.
Zwischen diesen Ausdrucksformen gibt es bei Kate Tempest vielfältige
Bezüge. Im Roman stellt sie den Alltag derjenigen in den Vordergrund, die
nicht nur Verlierer des jüngsten Referendums sind, sondern sowieso schon
unter den Entscheidungen leiden, die ihre Eltern-Generation vor Dekaden
getroffen hat: eine Arbeiterklasse, die trotz guter Ausbildung keine Arbeit
hat, in der Smartphones und Drogen Hoffnungsträger und allgegenwärtig
sind, in der Betäubung des Schmerzes als wirkungsvolles Antidot gilt.
## Finanzierung eines Traums
Das war auch schon der Hintergrund der Songs von Kate Tempest: „Grew up in
a city where you master your pain / Or you end up numb, not feeling“, hieß
es in „Lonely Daze“ auf ihrem Rap-Solodebüt „Everybody Down“. Auf dies…
Album hat man auch bereits das Figuren-ensemble kennengelernt, das nun im
Roman wieder auftaucht: Eine Tänzerin, die sich zur Finanzierung ihres
Traums als Sexarbeiterin verdingt, trifft auf einen arbeitslosen
Uniabsolventen, eine smarte Drogendealerin sowie ein paar weitere Verlierer
des neoliberalen Systems. Alle sind sie irgendwie miteinander verbandelt.
Prinzipiell sind für Tempest Musikalbum und Roman selbstverständlich zwei
komplett gegensätzliche Formen. Während Prosa komplexere Zusammenhänge
ermögliche, habe ein Vier- oder Fünf-Minuten-Track immer eine ihm ganz
eigene Mehrdeutigkeit. Im Klang der Worte finden die Formen für sie aber
wieder zusammen, jedwede Form geschriebener Sprache, findet sie, sollte
laut gelesen werden. „Worauf du dich verlassen kannst“ macht es vor. Der
Roman beginnt mit einer Passage, die Tempests Spoken-Word-Poetry sehr nahe
kommt. Kennt man ihren Rap-Output, spült sich während des Lesens ihre
Stimme ins Ohr. Der Text funktioniert allerdings auch, wenn man ihre Musik
nicht kennt. Kraftvoll und expressiv sind diese Zeilen. Bei Lesungen slammt
sie diesen Prolog auswendig.
Das Zentrum der Geschichte bilden Harry und Becky. Harry ist Dealerin mit
Terminplaner und City-Meetings, die von Sekretärinnen vereinbart werden.
Ihren politikverdrossenen Normalo-AbnehmerInnen hält sie schon mal Sprüche
entgegen: „Ist ja angeblich Wirtschaftskrise, oder? Ich hab noch nie so
viel Stoff vertickt!“ Aber nicht nur die Reichen koksen, Drogen sind
omnipräsent.
Eine entscheidende Veränderung vom Album zum Roman gibt es dabei: Auf der
Platte war Harry noch ein Typ. „It just happened“, kommentiert die Autorin
dieses Änderung des Geschlechts. Es steckt aber auch ein emanzipativer
Gedanke dahinter. Becky erschien zuvor zu sehr als Accessoire zu Harry, im
Sinne eines zu klischeehaften weiblichen Charakters. Nachdem sie Harrys
Pronomen in ein „sie“ gedreht hatte, fühlte es sich plötzlich richtig an,
sagt Kate Tempest. Auch die Story der Dealerin nimmt so mehr Fahrt auf. Die
Wirtschaftsbosse und Partyhengste vertrauen Harry, gerade weil sie eine
Frau ist.
## Wie viele Dus schleppst du?
Das Geschlechterverhältnis, das Becky aufarbeitet, ist das ihrer Eltern:
Ihre Mutter zerbrach an der Politkarriere ihres Mannes, der ihre eigenen
künstlerischen Ambitionen untergeordnet wurden. Solche Traumata werden
seitenweise aufgeholt, mitunter zwei Generationen zurück. Auf den ersten
Blick mag das unnötig erscheinen. Doch die Figurenkonstellation ist viel zu
interessant, um der Autorin hier einen mangelnden Rotstift vorzuwerfen.
Noch besser wäre es vielmehr gewesen, dem aufwendigen Aufbau und den vielen
Charakteren noch mehr Platz zwischen den Buchdeckeln zu schaffen.
Allerdings geht so die räumliche Gedrängtheit wiederum mit dem Tunnelblick
der ProtagonistInnen einher: Aufstehen, Arbeitsamt, Frühstücken, Drogen,
Clubben, Schlafen. Das ist ihr Alltag. Chancenlosigkeit bedingt eben einen
begrenzten Handlungsspielraum. Ihm steht die Freiheit des Lebens gegenüber.
Einige Figuren kratzen an der Tür zum Ausweg, doch dafür müssen sie die
anderen zurücklassen.
Man kann sich vorstellen, dass die Figuren alle ein bisschen Kate Tempests
Alter Ego sind. „Die Frau, die der Junge wurde“ heißt ein Gedicht in dem
Band „Hold Your Own“, in ihm kommt die Frage vor: „Wie viele Dus wirst du
schleppen?“ Tempest arbeitet hier mit der Figur des antiken Sehers
Teiresias, dessen Metamorphosen sich bei ihr nicht nur zwischen den
Geschlechtern bewegen: Persönlichkeit geht in dieser Lyrik in
Serienproduktion, lässt sich wechseln wie ein T-Shirt.
## Reihenweise Bildwelten
Ausladende Bilder bietet auch der Roman. Kate Tempest verbindet in ihm
bekannte Symbolik mit neuer Drastik: „Die Frau leuchtet so grell in Harrys
Augen. Sie explodiert aus sich selbst heraus wie ein Feuerball. Heller und
heller. Ihre Konturen sind elektrisch und ungestüm, sie schlagen in die
Party ein wie Blitze, sie spalten und versengen sie und funkeln wie
Sonnenlicht, das sich im Wasser spiegelt und zu Hitze wird.“
Absatzweise reihen sich solche Bildwelten aneinander, sie wirken
gelegentlich überladen, aber immer intensiv. Beckys Nebenjob als
Sexarbeiterin „trifft Harry wie ein Backstein“, auf Englisch heißt der
Roman „The bricks that build the houses“. Harrys Traum ist es, einen Raum
für Outlaws wie sie selbst zu schaffen. Er wird aus den Rückschlägen des
alltäglichen Scheiterns gebaut.
Auch wenn viele solcher Links – wie auch die Kapitelüberschriften, die im
Englischen die Songtitel des Rap-Albums sind – die Übersetzung nicht
überleben, ist das unter dem Pseudonym Karl und Stella Umlaut arbeitende
Übersetzerduo, bemüht, möglichst viel vom Sprach-Flow zu retten. Leider
gelingt der Transfer von Londoner Dialekt, britischer Umgangssprache und
Tempest’scher Sprachgewalt nicht immer. So wird ein Londoner Ausdruck wie
offie (kurz für off license, de facto ein Kiosk) in den Berliner
Regionalismus „Späti“ übersetzt – ein unnötiger Stolperstein.
Was hier verlorengeht, erhält der zweisprachig erschienene Gedichtband
„Hold Your Own“. So wie Tempests Prosa lyrisch ist, sind ihre Gedichte
prosaisch. Die Übersetzung durch Johanna Wange mag auf den ersten Blick
banalisierend wirken, doch ist sie am Ende nützlicher. Wange übersetzt sehr
wörtlich, passt nur selten einen Reim an, entscheidet sich für den ein oder
anderen bekannten Anglizismus. Die Ausgabe ist das, was eine Übersetzung
bei dieser Autorin bieten sollte: Orientierungshilfe im stürmischen
Sprachgeflecht und dennoch mitreißende Lyrik.
9 Jul 2016
## AUTOREN
Diviam Hoffmann
## TAGS
Kate Tempest
Rap
Prosa
Lyrik
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Afro-Punk
Kate Tempest
Schwerpunkt Frankreich
Musik
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ihren Gedichtband „Hold Your Own“ veröffentlicht.
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