| # taz.de -- Kate Tempest über HipHop und die Welt: „Das Beste ist, dich zu o… | |
| > Die britische Rapperin genießt die Ruhe der frühen Morgenstunden. Die | |
| > Fähigkeit zu Liebe und Empathie führt für sie aus der gesellschaftlichen | |
| > Isolation. | |
| Bild: In ihrem Element: Kate Tempest | |
| taz: Kate Tempest, warum handeln die Texte Ihres neuen Albums alle von | |
| Geschehnissen um 4.18 Uhr in der Früh? | |
| Kate Tempest: Ich habe eine besondere Beziehung zur Morgendämmerung. Zu der | |
| Zeit arbeite ich oft. Zum Beispiel schlafe ich nach einem Gig ein paar | |
| Stunden und stehe dann in den frühen Morgenstunden wieder auf. Um diese | |
| Zeit laufen keine Mails ein, niemand ruft mich an, ich gebe keine | |
| Interviews. Dieser Moment gehört weder dem Arbeitgeber noch ist er Teil des | |
| Vergnügens. Mir diesen Augenblick anzuschauen, ermöglicht mir Zugang zu | |
| meinen Figuren: Einer kommt vom Ausgehen nach Hause, eine andere kehrt heim | |
| von der Arbeit, jemand erwacht aus einem schlechten Traum. Die Erzählung | |
| bewegt sich horizontal – also quer zur Zeit statt durch sie hindurch. | |
| Ihre Figuren werden von Schlaflosigkeit geplagt. Warum drücken sich in | |
| diesem Phänomen die Probleme Ihrer Figuren aus? | |
| Schlaf ist essenzieller Bestandteil des Lebens. Beim Schlafen entstehen | |
| Vorstellungen; die Hirnaktivitäten geben uns Kraft, um am nächsten Tag | |
| lebendig zu sein. An Schlaflosigkeit zu leiden hat etwas | |
| Entmenschlichendes. Sie isoliert meine Protagonisten noch stärker. Es geht | |
| dabei um Vereinzelung, Fragmentierung, das Auseinandersplittern der | |
| Gesellschaft. | |
| Haben Sie selbst mit Schlaflosigkeit zu kämpfen gehabt? | |
| Ich habe viele Nächte wach gelegen, als ich hätte schlafen sollen. Ich | |
| kenne die Sorgen der Charaktere ganz gut. | |
| Zum einen leiden Ihre Figuren an Schlaflosigkeit, andererseits fallen sie | |
| zum Finale in einen Dornröschenschlaf, in dem wir uns generell befinden. | |
| Kreisen wir zu stark um uns selbst? Würden wir wachen Auges anders durch | |
| die Welt laufen? | |
| Schon möglich. Es gibt in dem Song auch die Metapher des Tunnelblicks, mit | |
| dem wir durch die Welt gehen. Wenn wir fähig wären innezuhalten und unsere | |
| Gegenüber wirklich wahrzunehmen, wenn wir uns erlauben würden, uns als Teil | |
| einer Gemeinschaft zu sehen und zu mehr Liebe und Empathie fähig wären, | |
| statt den anderen zu fürchten oder ihn für etwas verantwortlich zu machen, | |
| dann wäre das der Weg aus der Isolation. | |
| Ihre musikalischen Mittel sind HipHop, Spoken Word und elektronische | |
| Tanzmusik. Wie haben Sie gearbeitet? | |
| Ich habe das Album wieder mit meinem Produzenten und Freund Dan Carey | |
| entwickelt, mit dem ich bereits beim Vorgänger „Everybody Down“ | |
| zusammengearbeitet habe. Er ist wahrscheinlich meine größte Inspiration. | |
| Wenn wir kooperieren entsteht sofort Kreativität. „Let Them Eat Chaos“ | |
| sollte keine Antwort auf „Everybody Down“ sein, aber es gibt eine | |
| Verbindung zwischen beiden Alben. Das neue Album ist kontrollierter, klarer | |
| – und es ist sehr, sehr kraftvoll. Der dunkle, dreckige Slow-Disco-Sound | |
| gefällt mir, genauso die Bässe, die House anklingen lassen, und auch die | |
| Synthies – dieser speckige Klang der Roland 808. Meine Beats haben wuchtige | |
| Snare-Schläge, der Sound trägt Züge von TripHop. | |
| Sie sprachen von Vereinzelung. Haben Konzerte den Effekt, das Gefühl von | |
| Zusammenhalt zu verstärken? | |
| Konzerte zu besuchen ist eines der wichtigsten Dinge, die man tun kann. Ob | |
| du nun zu einem Fußballspiel gehst, zu einem Konzert oder ins Theater, man | |
| wird dabei zum Teil einer Menge. Alles, was du fühlst, überträgt sich | |
| direkt auf die anderen im Saal. Es ist ein Moment des Staunens, der | |
| Zärtlichkeit und der Empathie: Man fühlt eine Nähe zu diesen Menschen. | |
| Gehen Sie ins Stadion? | |
| Nein. Aber viele Freunde von mir. Und die Musiker auf der Bühne und die | |
| Spieler auf dem Fußballplatz stehen für so viel mehr als nur für sich | |
| selbst. Das ist „mein“ Team, „meine“ Band – eine seltsame Wahrnehmung. | |
| Bei Konzerten hat sich durch die digitale Ära ein Wandel vollzogen. Viele | |
| sehen diese nur noch durchs Smartphone. | |
| Ja. Wenn ich auf der Bühne stehe, bitte ich Zuschauer, bei sich und im Raum | |
| zu sein – ohne jemandem etwas vorschreiben zu wollen. Einfach, weil ich | |
| glaube, dass es besser ist, wenn man sich konzentriert, statt etwas für die | |
| Erinnerung festzuhalten. Aber wenn dich etwas wirklich einnimmt, ist das | |
| Letzte, was du willst, dein Handy rauszuholen und ein Video zu machen. | |
| Ihrem Album „Everybody Down“ folgte der Roman „The Bricks that Built the | |
| Houses“ (2015), in dem Sie die Geschichte der Figuren weitererzählen. Ist | |
| mit „Let Them Eat Chaos“ Ähnliches geplant? | |
| Bei „Everybody Down“ war von vornherein klar, dass es ein Album und ein | |
| Roman wird. „Let Them Eat Chaos“ ist eine abgeschlossene Sache. Es ist ein | |
| Gedicht und gleichzeitig ein Album; in Gedichtform wird es als Begleittext | |
| im Booklet abgedruckt. Wenn die Charaktere weitererzählt werden wollen, | |
| kann es schon sein, dass ich sie erneute verwende. Gerade treibt mich eine | |
| andere Romanidee um. Ich kann’s kaum abwarten, sie aufzuschreiben. | |
| Denken Sie bewusst darüber nach, die Ästhetik des Apokalyptischen zu | |
| aktualisieren? | |
| Seit ich zwölf bin, bin ich mir ziemlich sicher, dass wir in den letzten | |
| Tagen der Menschheit leben (lacht). Als ich jünger war, gab es all diese | |
| Verschwörungstheorien über die neue Weltordnung – eine Weltregierung und | |
| Computerchips, die uns steuern. Und jetzt rennen alle mit diesen | |
| Smartphones durch die Gegend und guckt direkt in die Kamera. Alles, was ich | |
| für Verschwörungstheorie hielt, ist wahr geworden. Und wir leben immer noch | |
| in Zeiten von Krieg und schrecklicher Zerstörung. Aber: Sogar in den | |
| schlimmsten Zeiten ist das Schlechteste, was du tun kannst, panisch zu | |
| reagieren. Das Beste, was du tun kannst, ist dich zu organisieren. | |
| Wie reagieren Sie als Künstlerin auf Herausforderungen der Gegenwart? | |
| Wie kann ich Gedichte schreiben inmitten einer humanitären Krise? Wie | |
| rechtfertige ich Auftritte, während anderswo Leute vor Kriegen fliehen und | |
| im Meer ersaufen? Darüber denke ich viel nach. Im Moment der Kreativität | |
| steckt sehr viel Positives, damit bringe ich die Welt ein Stück weit zurück | |
| ins Gleichgewicht. Genauso wie ich Angst und Paranoia empfinde, von der ich | |
| sprach, fühle ich auch Hoffnung für die Menschheit und meine Umwelt. | |
| US-HipHop und Protestbewegungen wie Black Lives Matter bringen das | |
| Politische und das Kreative zusammen. | |
| Black Lives Matter drückt jenseits alles Politischen etwas fundamental | |
| Menschliches aus. Wenn wir Polizisten erlauben, barbarisch und mörderisch | |
| zu handeln, dann ist das eine Wunde in der Seele der Menschheit. Diese | |
| Wunde hat historische Ursachen. Ich bin weiß und britisch, der | |
| transatlantische Sklavenhandel ist Teil meiner Geschichte. Ich selbst habe | |
| so viel Input durch die schwarze Kultur bekommen, ich empfinde nur Scham. | |
| Ihren Song „Europe Is Lost“ haben Sie weit vor dem Brexit veröffentlicht. | |
| Was denken Sie nun darüber? | |
| Es ist besorgniserregend. Mehr als der Brexit an sich besorgt mich aber, | |
| dass Länder sich abspalten und die Schuld bei anderen Kulturen, Ländern und | |
| Institutionen suchen. | |
| 14 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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