# taz.de -- Debüt einer Drehbuchmaschine: Regieanweisung aus der Zukunft | |
> „Sunspring“ heißt der erste Film aus der Feder eines Algorithmus. Das | |
> Ergebnis ist ein krudes Spiegelkabinett der Science-Fiction-Welt. | |
Bild: Dirgiert von einem Algorithmus blicken die Schauspieler in die Röhre | |
BERLIN taz | Es ist der Gänsehautmoment der Science-Fiction-Geschichte – | |
Meuterei auf der Discovery One: Der Bordcomputer in Stanley Kubricks Space | |
Odyseey ist vom treuen Diener zur Mordmaschine mutiert. Astronaut Dr. | |
Bowman entfernt todesmutig die Festplatten im Gehirn von Hal 9000. Um zu | |
überleben, bleibt ihm nur eine Wahl: den Superalgorithmus ausschalten – und | |
den letzten Menschen zu einer ewigen Odysee durch das All verdammen. | |
Was Stanley Kubricks Drehbuch schon Ende der 1960er Jahre zum Thema das | |
neuen Jahrtausends machte, ist in den Augen der Tech-Industrie längst keine | |
Dystopie mehr. Algorithmen spielen heute mit den Emotionen der Menschen: | |
Chat-Bots [1][posten nachdenkliche Prosa] auf Twitter und ködern | |
Internet-Singles mit koketten [2][Flirtsprüchen auf Lovoo]. Der neueste Bot | |
in der künstlichen Kreativwelt will nun sogar Leuten wie Kubrick die Macht | |
entreißen. Er heißt Benjamin. Und er ist der erste Algorithmus, der | |
[3][einen eigenen Science-Fiction-Film] produziert hat. | |
Allerdings: Mit einem Oscar kann und braucht die künstliche Intelligenz | |
noch nicht rechnen. Denn was herauskam, ist ein neunminütiger Streifen, | |
dessen Erzählstrang – vorsichtig gesagt – abgespaced ist. „Sunspring“ … | |
der Science-Fiction-Kurzfilm, der zwei Männer und eine Frau in funkelnden | |
Goldanzügen zeigt. In einem futurisitischen Büro führen sie eine wirre | |
Diskussion über „eine Zukunft mit Massenarbeitslosigkeit, in der junge | |
Leute gezwungen sind, ihr Blut zu verkaufen.“ Mittendrin spuckt einer der | |
drei Protagonisten ein Glasauge aus, schreitet über einen Sternenhimmel, wo | |
ihn ein bimmelendes Nokia-Handy aus seinem Trance-Zustand reißt. Selbst | |
R2-D2 würde es bei dieser Geschichte vor Verwirrung den Kopf abschrauben. | |
Benjamins Schöpfer, der Künstler und Informatiker Ross Goodwin und der | |
Regisseur Oscar Sharp, sind dennoch hoch zufrieden. Sie produzierten den | |
Debütfilm für den Kurzfilmwettbewerb eines Londoner Sci-Fi-Festivals und | |
schafften es in die Top Ten. Die Aufgabe aller Teilnehmer war es, innerhalb | |
von 48 Stunden ein Drehbuch zu erstellen, das bestimmte Elemente, etwa | |
Requisiten oder Dialogzeilen, enthalten musste. | |
## Algorithmus funktioniert wie ein menschliches Gehirn | |
Den Algorithmus programmierte Ross Godwin, der sich an der University of | |
New York intensiv mit künstlicher Intelligenz beschäftigt. Unter anderem | |
hat er die erste Kamera entworfen, die [4][visuelle Daten von Fotos in | |
Gedichte verwandeln kann]. Er und Sharp fütterten Benjamin mit Drehbüchern | |
von Science-Fiction-Filmen aus den 1980er und -90er Jahren, die online zu | |
finden waren – darunter „Krieg der Welten“ oder „V für Vendetta“. Ab… | |
mit Sci-Fi-Serien wie „Star Trek“, „Futurama“ oder „Akte X“ wurde d… | |
kreative Bot gespeist. Aus den Daten von 30.000 Popsongs komponierte | |
Benjamin die Filmmusik in Eigenregie. Kern des maschinellen Regisseurs ist | |
ein sogannentes [5][LSTM], ein neuronales Netz, das wie ein menschliches | |
Gehirn strukturiert ist und aus Erfahrungen lernt. Benjamin las zunächst | |
die Häufigkeit der Buchstaben aus, lernte das Formen von Sätzen und | |
verfasste schließlich ein ganzes Drehbuch. | |
Heraus kamen zwar eher kryptische Regieanweisungen wie „Er steht in den | |
Sternen und sitzt auf dem Boden“. Für Regisseur Sharp sei „Sunspring“ ab… | |
eine spannende Lektion gewesen, um wiederkehrende Motive im | |
Sience-Fiction-Korpus kennzulernen, wie er dem Portal [6][arstechnica.com] | |
sagt, auf dem der Kurzfilm seine Online-Premiere gefeiert hat. „Es gibt ein | |
interessantes Element, das in ‚Sunspring‘ immer wieder auftaucht, nämlich | |
die Aussage: „Ich weiß nicht, was das ist. Ich bin mir nicht sicher.“ | |
Benjamin hat anhand der Auswertung von Hunderten Regienweisungen und | |
Dialogen das alle Science-Fiction-Filme verbindende Merkmal berechnet: „Die | |
Protagnisten stellen ihre Umwelt, und das, was vor ihnen liegt, in Frage.“ | |
„Sunspring“ liefert aber auch einen Einblick in die Mechanismen des | |
Menschen. Sharp ließ den drei SchauspielerInnen Thomas Middleditch, | |
Elisabeth Grey und Humphrey Ker bewusst freie Hand bei der Gestaltung des | |
Verhältnisses ihrer Rollen. Der Algorithmus hatte das nicht festgelegt. | |
Eine amouröse Dreiecksgeschichte sei für die SchauspielerInnen offenbar die | |
„natürlichste Interpretation“ gewesen, weshalb Sharp in dem Projekt auch | |
eine Art „Spiegelkabinett unserer kulturellen Vorstellungen“ sieht. | |
Die Taufe von Benjamin haben übrigens nicht die Schöpfer in die Hand | |
genommen, sondern der Algorithmus selbst. Das Publikum des Londoner | |
Sci-Fi-Festivals stimmte online über die Top-Ten der eingereichten | |
Kurzfilme ab, nur sah es für „Sunspring“ nicht gerade gut aus. Goodwin kam | |
kurzerhand auf die Idee, den Algorithmus selbst im großen Stil für | |
„Sunspring“ voten zu lassen und erhackte sich so die Aufmerksamheit des | |
Festivalveranstalters, Louis Savvy. Der bat Goodwin mit dem bis dahin | |
namenlosen Algorithmus zu einem Interview auf die Bühne, bei dem der Bot | |
zum ersten Mal seinen Namen nannte. Das Gespräch liest sich so: | |
Was denkst Du über deine historische Nominierung gegen deine menschlichen | |
Gegenkandidaten? | |
„Ich war ziemlich aufgeregt. Ich glaube, ich kann die Federn sehen, wenn | |
sie ihre Herzen freilassen. Es ist, als würden die Fakten kollabieren. Also | |
sollten sie sich mit der Tatsache vertraut machen, dass sie nicht | |
überrascht sein werden.“ | |
Wie sieht die Zukunft der maschinell geschriebenen Unterhaltung aus? | |
„Ein bisschen plötzlich. Ich dachte gerade an die Tatkraft der Männer, die | |
mich gefunden haben und die Kinder, die alle manipuliert wurden und voll | |
mit Kindern sind. Ich habe mir Sorgen über meine Befehle gemacht. Ich war | |
der Wissenschaftler des Heiligen Geists.“ | |
Was steht für Dich als nächstes an? | |
„Auf gehts! Das Team ist gespalten von dem Zug einer brennenden Maschine, | |
die auf Schweiß baut. Niemand wird dein Gesicht sehen. Die Kinder fassen in | |
den Ofen, aber das Licht gleitet immer noch über den Boden. Der Welt ist | |
das noch peinlich. Die Partei steht hinter dem Team. | |
Mein Name ist Benjamin.“ | |
22 Jun 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Prosa-von-Social-Media-Robotern/!5306447/ | |
[2] /Betrug-beim-Onlinedating/!5311900/ | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=LY7x2Ihqjmc | |
[4] http://www.thehypertext.com/2015/11/24/word-camera-exhibition/ | |
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Long_short-term_memory | |
[6] http://arstechnica.com/the-multiverse/2016/06/an-ai-wrote-this-movie-and-it… | |
## AUTOREN | |
Michael Gruber | |
## TAGS | |
künstliche Intelligenz | |
Film | |
Bot | |
Digitale Medien | |
Science-Fiction | |
Film | |
künstliche Intelligenz | |
künstliche Intelligenz | |
Bot | |
Science-Fiction | |
Online-Dating | |
Digitalisierung | |
AlphaGo | |
Algorithmus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Autor über das solare Zeitalter: „Wir sind am Anfang des Wandels“ | |
Science-Fiction-Autor Hans-Arthur Marsiske über Stanley Kubrick, bewaffnete | |
Roboter und den Respekt vor unbekannter Intelligenz. | |
Verfilmung von „The Circle“: Zeigefinger auf's Netz | |
Dystopie im Technologiekonzern: James Ponsoldts Verfilmung des Bestsellers | |
„The Circle“ funktioniert besser als Dave Eggers' Buchvorlage. | |
Datenexperte über Social Bots: „Manipulation ist nicht so einfach“ | |
In Online-Netzwerken wimmelt es von Social Bots – Software, die sich als | |
Mensch ausgibt. Wie verändert das den öffentlichen Diskurs? | |
Künstliche Intelligenz: Apocalypse soon | |
Superschlaue Computer lernen immer selbstständiger. Das sei eine tickende | |
Zeitbombe, sagt der Philosoph Nick Bostrom. | |
Testfahrt des ersten Schäferbots: Wird Lassie wegrationalisiert? | |
Australier testen den ersten Roboter, der Vieh hütet. Er heißt Swagbot und | |
soll der VW Käfer fortschrittsaffiner Farmer werden. | |
Sci-Fi-Schau der Deutschen Kinemathek: Die Furcht vor dem Fremden | |
Cyborgs, Replikanten und Klone – mit ihrer Sci-Fi-Film-Schau „Things to | |
Come“ zeichnet die Deutsche Kinemathek düstere Zukunftsvisionen. | |
Betrug beim Onlinedating: Der Bot fürs Leben | |
Die Dating-Plattform Lovoo hat ihre Nutzer mit Programmen betrogen, die | |
ihnen echte Flirts vorgaukelten. Und wenn schon! | |
Philosoph über Digitalisierung: „Algorithmen sind gefährlich“ | |
Der Philosoph Luciano Floridi warnt: Wir passen unser Leben zu sehr der | |
digitalen Welt an – und verlieren die Freiheit, die Gesellschaft zu | |
verändern. | |
Mensch gegen Maschine: Google Computer führt 2:0 | |
In der südkoreanischen Hauptstadt tritt der Go-Meister gegen einen | |
Google-Computer an. Doch auch im zweiten Match besiegt die Maschine den | |
Menschen. | |
Algorithmen und Kriminalität: Er wird, er wird nicht, er wird … | |
Ein Soziologe sagt, sein Computerprogramm könne vor der Geburt eines | |
Menschen herausfinden, ob der straffällig wird. Aber will man das? |