# taz.de -- Opferangehöriger über Terror in Paris: „Auf Hass gibt es keine … | |
> Antoine Leiris' Frau Hélène wurde von Terroristen in Paris erschossen. | |
> Nun erzählt er die Geschichte seiner Trauer. Ein Gespräch über Worte, | |
> Verlust und Gefühle. | |
Bild: „Die Wörter beschützen mich“, sagt der Kulturjournalist Leiris | |
taz.am wochenende: Herr Leiris, mehr als sechs Monate sind die | |
Terroranschläge in Paris her, bei denen Ihre Frau Hélène im Bataclan | |
erschossen wurde. Wie geht es Ihnen? | |
Antoine Leiris: Besser. Als Papa bin ich ängstlich, aber ich komme zurecht. | |
Als Schriftsteller funktioniere ich wieder und habe erneut angefangen zu | |
schreiben. Aber der Mensch Antoine Leiris ist immer noch ein bisschen | |
beschädigt – recht beschädigt eigentlich. | |
Warum trennen Sie zwischen Vater, Autor und Mensch? | |
Weil mein Sohn verwirrt wäre, wenn er auf meinem Schoß sitzt und mit mir | |
spielen will, und ich nur weinen würde. Deshalb muss ich alles trennen. | |
Sie haben nach den Ereignissen vom 13. November 2015 in Paris ein Buch | |
geschrieben. „Meinen Hass bekommt ihr nicht“. So lautete auch der Titel des | |
Briefes, den Sie kurz nach den Terroranschlägen auf Facebook posteten und | |
mit dem Sie bekannt wurden. Für wen haben Sie das Buch geschrieben? | |
Nur für mich. Oft werde ich danach gefragt, ob ich das Buch für Hélène | |
geschrieben habe. Aber nein: Das Buch ist viel zu klein, um Hélène zu | |
ehren. Hélènes Huldigung findet jeden Tag in mir statt, in meinem ganzen | |
Sein. Das ist etwas Großes. Nie habe ich daran gedacht, wer mich lesen | |
wird, oder wie, oder zu welchem Zweck. Ich wollte absolut frei schreiben. | |
Ist Ihnen das gelungen? | |
Im Buch habe ich chronologisch jene Situationen beschrieben, die | |
aneinandergereiht erklären, wie meine Lage damals tatsächlich war. | |
Wie haben Sie die Situationen ausgewählt? | |
Vor allem gab es da eine Grenze: die der Intimität. Ich wollte auch, dass | |
alles, was ich schildere, der Realität entspricht – alle Ereignisse haben | |
sich so abgespielt, wie sie im Buch beschrieben sind. Ich wollte keine | |
künstlichen Anekdoten erfinden, um meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. | |
Ich wollte etwas schildern, das über das Erzählte hinausgeht. | |
Wie erklärten Sie Melvil, Ihrem Sohn, die Ereignisse? | |
Bisher habe ich ihm die Ereignisse noch nicht erklärt. Er ist noch zu | |
klein. Ich habe ihm gesagt, dass seine Mama tot ist, dass niemand mehr sie | |
sehen kann. Er hat die Veränderung ja gespürt. Die Wörter – Tod, Sterben �… | |
mussten ausgesprochen werden, damit sie kein Tabu sind, damit sie nie ein | |
Tabu werden. | |
Wie also sprechen Sie mit ihm? | |
Er ist noch ein wirklich kleiner Junge. Wir können uns nicht um ein | |
Lagerfeuer setzen und darüber reden, wie Mama war und so weiter, während | |
wir Marshmallows grillen. Aber ich erzähle ihm von Hélène. Ich predige ein | |
bisschen ins Leere, aber er ist sehr aufmerksam, also es bleibt etwas. Und | |
wenn er mir Fotos von seiner Mama zeigt, reden wir darüber. Ich erzähle von | |
ihr, sage ihm, deine Mama mochte den Duft „Louve“, ihr Parfüm, deine Mama | |
mochte Rock ’n’ Roll. | |
Am 13. November war Hélène bei einem Konzert der Eagles of Death Metal im | |
Bataclan. Mag Melvil Rockmusik wie seine Mutter? | |
Er mag lieber einfachere Melodien. Also es gibt schon Sachen, die er mag: | |
Philippe Katerine, Françoise Hardy, Jacques Dutronc. Ziemlich gute Sachen. | |
Allerdings wird er sich irgendwann in die Schallplattensammlung seiner Mama | |
vertiefen wollen. Sicher. | |
Sie haben zwölf Jahre lang mit Hélène gelebt. Was hat Ihnen an ihr | |
gefallen? | |
Ihre riesengroßen Augen, glaube ich. Ihre Klugheit, ihre Liebenswürdigkeit, | |
ihr Humor. Sie war so schön, dass es jeden umgehauen hat. Ich habe mich | |
einfach verliebt. | |
Als Sie von den Schüssen im Bataclan erfuhren, dachten Sie da sofort, dass | |
ihr etwas zugestoßen sein könnte? | |
Egal ob man sicher ist oder nicht: Sofort bricht ein Sturm in einem aus. Er | |
zieht auf, breitet sich aus und ist auch nicht mehr aufzuhalten, bis man | |
erfährt, dass sie gefunden wurde – oder etwas anderes. | |
Sie mussten einen ganzen Tag warten, bis Sie erfuhren, dass sie tot ist. | |
Wie haben Sie dieses Warten erlebt? | |
Es sind zwei sich widersprechende Gefühle, die einen überrollen: | |
Verzweiflung und Hoffnung. Einerseits: Es ist vorbei, wir hätten sie längst | |
wiederfinden müssen. Andererseits: Es kann nicht sein, man weiß nie, die | |
Chance ist so gering, aber es gibt sie. Beide Gefühle wechseln sich nicht | |
ab, sie sind wirklich gleichzeitig da. | |
Über den Augenblick, als Sie am Telefon erfahren, dass Hélène tot ist, | |
schreiben Sie nur eine Zeile: „Antoine, es tut mir so leid …“ Warum nicht | |
mehr? | |
Aus Zartgefühl. Aus Anstand. Das ist etwas, das nur uns vorbehalten ist, | |
das nur wir in uns tragen. Was ich in meinem Buch aber mitteile, ist dieses | |
Gefühl des Verlusts, diese Allgegenwart der Abwesenheit, dieses Alleinsein | |
mit der Verantwortlichkeit für das Kind. Viele haben in ihrem Leben damit | |
zu tun. | |
Im Buch erzählen Sie, wie Sie mit Melvil in die Welt der Trauer getreten | |
sind. | |
Ich habe eine Grenze zwischen der Welt und uns gezogen, denn ich musste | |
meinem Sohn zeigen, dass er sich auf mich verlassen kann – jederzeit und | |
bei allem, was er braucht, sei es Nahrung, Aufmerksamkeit, Sauberkeit, | |
Unterhaltung –, dass wir jetzt eine Familienzelle zu zweit sind. | |
Mittlerweile haben wir die Türen wieder aufgemacht, die Leute können wieder | |
in unser Leben treten. Melvil wird es brauchen; er sucht überall | |
Miniaturausgaben seiner Mutter. Ich habe mich immer über jede Art von | |
Unterstützung gefreut, aber zuerst haben wir es gebraucht, zu zweit zu | |
sein. Jetzt sind wir wieder offen. Wir brauchen Offenheit. Wir können nicht | |
nur zu zweit bleiben. | |
Gibt es auch deshalb Ihr Buch? | |
Es mag merkwürdig erscheinen, aber mir fällt es schwer, über mein | |
Privatleben, meine Intimität mit den Leuten zu sprechen. Das Schreiben hat | |
mir das erlaubt. Die Wörter beschützen mich. Mit dem Schreiben gehe ich | |
wirklich den Gefühlen, Widersprüchen, all diesen Dingen, die mich | |
beherrschen, auf den Grund. | |
Wie unterscheidet sich Ihr Buch von dem Brief, den Sie nach Hélènes Tod auf | |
Facebook posteten? | |
Mit einem Buch geht man tiefer, tiefer in die Intimität, – und kommt näher | |
an die Leser. | |
250.000-mal wurde Ihr Brief auf Facebook geteilt. Haben Sie sich dadurch | |
unterstützt gefühlt? | |
Sicher. Aber es ging eigentlich über mich hinaus. Frankreich und Paris | |
wurden unterstützt, als Opfer der Angriffe. Alle diese liebevollen | |
Nachrichten, die ich bekommen habe, wurden mir geschickt, aber eigentlich | |
galten sie allen. | |
Deshalb haben Sie sich überfordert gefühlt? | |
Ja, aber nicht nur. Der Facebook-Post ist für mich eine bloße Anekdote. | |
Ihn wieder in seinen Zusammenhang zu stellen, wie ich es im Buch tue, ihn | |
zu datieren, er ist ja da auch abgedruckt, das erlaubt es mir irgendwie, | |
ihn als mein Erlebnis zu dieser Zeit zu betrachten. | |
Sie verweigern den Hass. Aber wäre Hass nicht eine Option gewesen? | |
Selbstverständlich. Aber ich habe eine Alternative geboten, nämlich die, | |
sich nicht vom Hass anstecken zu lassen, und die Leute haben sie | |
angenommen. Viele waren von den Angriffen nicht direkt betroffen und | |
fühlten sich nicht berechtigt, das zu behaupten, was ich auf Facebook | |
behauptet habe. Meine Botschaft setzte einen anderen Ton als die | |
Vergeltungsreden etwa des Front National. | |
Sie sind Journalist. Welche Verantwortung tragen die Medien genau in der | |
Debatte über den Front National? | |
Ich habe diese Geschichte aus der Ich-Perspektive geschrieben, anstatt zu | |
versuchen, große Friedensbotschaften zu predigen. Ich habe versucht, die | |
Geschichte eines Kerls und seines Sohns zu erzählen, weil ich glaube, dass | |
das Persönliche aussagekräftig ist. Ich möchte damit versuchen, an das zu | |
appellieren, was tief im Inneren der Leute liegt – die Sehnsucht nach Würde | |
und Klugheit. Ich bin ja Kulturjournalist, was auch eine besondere Art von | |
Journalismus ist. Ich setze jedenfalls mehr Hoffnung in die Menschen als in | |
das System. Ich kämpfe also lieber darum, die Menschen innerlich mit | |
Schönem zu erheben. | |
Schafft das Ihr Buch? | |
Ich bin kein Guru. Ich hoffe einfach, dass ich damit in irgendeiner Form | |
dazu beitrage, dass die Menschen mehr über die Welt nachdenken. Einen | |
anderen Ehrgeiz habe ich nicht. Ich denke auch, dass viel zu viele Leute | |
meinen, sie können die Welt erklären, und sogar genau bestimmen, was | |
richtig und falsch ist, wer schuld oder verantwortlich ist an den | |
Missständen. | |
Was kann Kultur leisten? | |
Sie soll die Leute und ihr Denken bereichern. Die Leute haben nicht nur | |
darauf Lust, dass ihr protoreptiles Gehirn angesprochen wird. Sie wollen | |
geistig wachsen. Sie streben nach Würde. Und nichts ist besser als die | |
Kultur, um die Welt zu verstehen. Also ich habe nichts Besseres gefunden. | |
Zuerst wollte ich Journalist werden, da ich mich für das Tagesgeschehen | |
interessierte. Eines Tages habe ich angefangen, mich weniger für das | |
Tagesgeschehen zu interessieren, und mehr für das Kino, die Literatur, die | |
Musik, die Malerei. Und ich habe angefangen zu verstehen, dass ich die Welt | |
in ihrer Realität nie besser verstanden habe als durch die Augen der | |
Künstler. | |
Weil die nicht vorschreiben, wie man etwas zu verstehen hat? | |
Ich kann Leute nicht ausstehen, die eine Meinung zu allem haben. Das | |
öffentliche Wort ist so herabgewürdigt worden, obwohl es eigentlich | |
wertvoll ist. Ich will nicht etwas kommentieren, zu dem ich keine | |
wohlüberlegte Meinung, an dem ich kein Interesse habe, nur um des | |
Kommentierens Willen. Es ist äußerst selten, dass Leute wirklich so | |
verstehen oder hören, dass Sie die Wirkung ihrer Wörter in ihrem Inneren | |
spüren können. Diese Augenblicke sind zu wertvoll, um sie durch Streit, | |
Glosse, Kommentar zu vergeuden. Ich konzentriere mich auf mein Buch. Es | |
bewegt die Leute, und es ist schon ein Glück, wenn sie bloß eine | |
Zehntelsekunde lang davon bewegt werden. | |
Ist die Zurückhaltung, mit der Sie Ihre Gefühle äußern, die Zurückhaltung | |
des Journalisten? | |
Es ist die des Menschen. | |
In Ihrem Buch fällt auf, wie klar Sie in dem Augenblick sind – als Sie vom | |
Tod Ihrer Frau erfahren. Kann man das in Wirklichkeit überhaupt sein? | |
Ich habe die Gefühle von Anfang an so angenommen, wie sie kamen. Man muss | |
sie erst annehmen und dann darüber nachdenken und schließlich versuchen, | |
sie zu beherrschen. Aber ich bin kein reiner Geist: Diese Gefühle kommen | |
manchmal zurück, dann fängt alles von vorn an. | |
Glauben Sie an das Schicksal? | |
Nein. Das Schicksal nenne ich Zufall. Aber es ist dasselbe. | |
Das Buch stemmt sich Hass und Wut entgegen. Haben Sie diese Gefühle | |
wirklich nie empfunden? | |
Natürlich sind sie gekommen. Auch Fragen zur Ungerechtigkeit sind gekommen: | |
Warum Hélène? Warum an diesem Abend, an diesem Ort? All diese Fragen haben | |
mich getroffen. Aber ich weiß, was der Preis ist, wenn man sich auf diese | |
Gefühle einlässt. Auf Hass gibt es keine Antwort. Es gibt keine Antwort | |
darauf. Sie hassen jemanden und denken, dass der Hass aufhört an dem Tag, | |
an dem der Täter verurteilt oder sogar getötet wird. Aber auch dann hört | |
Hass nicht auf. | |
Manche Menschen scheint er zu entlasten. | |
Wie lange? Ich will nicht verallgemeinern, ich spreche nur für mich, und | |
ich verstehe gut, dass manche sich damit entlastet fühlen. Doch ich denke, | |
auch wenn die Täter verurteilt worden wären, hätte sich nach wie vor die | |
Frage gestellt: Reicht das? Nehmen wir an, sie wären zu lebenslangen | |
Freiheitsstrafen verurteilt worden: Die wirklich lebenslange Strafe | |
existiert nicht. Nehmen wir weiter an, die Todesstrafe wird wieder | |
eingeführt und sie werden getötet: Bin ich ein Mensch, wenn ich jemanden | |
töte, der selber getötet hat? Bin ich ein Mensch, wenn ich mir das wünsche? | |
Aus einer solchen Spirale wäre ich niemals unverletzt herausgekommen. | |
Wollten Sie im Buch Ihre Wut auch nie zum Ausdruck bringen? | |
Wut und Hass sind zwei unterschiedliche Sachen. Wut kommt nicht sofort. | |
Vielleicht eines Tages. Aber das Buch wurde sehr schnell veröffentlicht, | |
denn mir wurde während des Schreibens früh klar, dass ich das nicht lange | |
aushalte. Es war zu schwierig. Gleichzeitig war ich glücklich, dass ich | |
durch das Schreiben meinen Kummer zulassen konnte. Und, ganz ehrlich, die | |
Texte über Hélène waren die letzten, die ich geschrieben habe. Danach war | |
ich leer. Ich konnte nicht mehr. | |
Manche sprechen von einem Roman, Sie eher von einem Tagebuch. Was macht den | |
Unterschied aus? | |
Die Frage stelle ich mir wirklich nicht. In zehn Jahren werden wir sehen, | |
was das Buch ist, zu welcher Gattung es gehört, ob es eine Eintagsfliege | |
ist oder auch dann noch gelesen wird. Das hängt von seiner literarischen | |
Qualität ab. Es gibt Bücher, die sind wie Blumen, die langsam aufblühen. | |
Andere verwelken schnell. | |
Hatten Sie bereits vor den Anschlägen vor, Bücher zu schreiben? | |
Ja, aber ich fand mich zu untalentiert. Mein Erlebnis hat etwas frei | |
gesetzt. Es hat bestimmte Hindernisse umgestoßen. Aber nicht aus eigener | |
Kraft. | |
Das vorletzte Kapitel heißt „Ende der Geschichte“. Ende welcher Geschichte… | |
Wollen Sie wirklich die Antwort? | |
Natürlich. Aber wollen Sie sie auch geben? | |
Doch. Nein. Na ja. Es ist einfach so. | |
Was haben Sie jetzt vor? | |
Ich habe noch nicht angefangen, wieder zu arbeiten. Ich warte noch auf das, | |
was kommt. Das Leben hat beschlossen, teilweise an meiner Stelle | |
Entscheidungen für mich zu treffen. Ich glaube, ich muss das einfach | |
akzeptieren und diesem Weg folgen. Vor kurzem habe ich eine Seite | |
geschrieben. Und es gibt einen Ort, wo ich gern hingehen würde. | |
10 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Louis Belin | |
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