| # taz.de -- Paris nach dem Terror: Wieder die Könige der Welt sein | |
| > Die Trauer im Pariser Osten ist allgegenwärtig, doch am Savoir-vivre | |
| > halten die Menschen fest. Es ist ihre Antwort auf den Terror. | |
| Bild: Menschen am Place de la Republic singen die Marseillaise | |
| Paris taz | „Paris ist ein Dorf“, sagt die junge Frau. „Jeder von uns ken… | |
| jemanden, der irgendwie betroffen ist“, ergänzt ihre Freundin. Oriane und | |
| Audrey haben sich im Café La Marquise verabredet, in der Rue Saint-Maur, wo | |
| sich eine Kneipe an die andere reiht, um hier das Fußballspiel England | |
| gegen Frankreich zu gucken. „Sonst ist es viel voller“, bemerkt Audrey. Es | |
| nieselt draußen, nicht allen steht der Sinn nach Fußball. | |
| Auch für die beiden Frauen, Ende 20, ist das Spiel nur ein Vorwand. Als auf | |
| der Großbildleinwand die Spieler im Londoner Wembley-Stadion die | |
| Marseillaise anstimmen, singen viele Besucher mit. Eine Minute lang | |
| verstummen die Gespräche. Anpfiff. Klatschen. Audrey weint. Die Freundin | |
| einer Freundin ist im Bataclan ums Leben gekommen. Dass das Spiel | |
| Niederland gegen Deutschland in Hannover wegen einer Bombendrohung abgesagt | |
| ist, weiß hier noch niemand. | |
| Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr ist es der Osten von Paris, der für | |
| die revolutionäre Tradition stehende Teil der Stadt zwischen Bastille und | |
| République, der von Anschlägen heimgesucht wurde. Doch diesmal ist es | |
| anders als im Januar, als nicht weit von hier das Attentat auf die | |
| Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo verübt wurde. Es gibt mehr | |
| Tote, mehr Anschlagsorte. Es häufen sich die Blumen, Kerzen, Inschriften, | |
| nicht nur auf der Place de la République, sondern auch gegenüber der | |
| Konzerthalle Le Bataclan am Boulevard Voltaire, vor den Restaurants mit den | |
| zerschossenen Scheiben in der Rue Alibert, der Rue de la Fontaine au Roi | |
| oder in der Rue de la Charonne. | |
| „Diesmal ist es anders“, erklärt die Schriftstellerin Dominique Manotti, | |
| „weil es jeden hätte treffen können. Und weil wirklich alle erschüttert | |
| sind.“ Keine Häme, keine Distanzierungen. „Die Anschläge haben – wie in… | |
| USA bei 9/11 – einen eher einigenden Charakter“, sagt Manotti. „Da haben | |
| sich diese Kerle vielleicht verrechnet.“ | |
| Klein, mit blauem Poloshirt und schwarzer Fleecejacke sitzt die einstige | |
| Wirtschaftshistorikerin in einem Café nahe der Metrostation Stalingrad. Sie | |
| ist nicht zimperlich in ihren Krimis, was Gewalt, fiese Tricks und fiese | |
| Typen angeht, doch über Terroristen könne sie nicht schreiben, sagt sie, | |
| „ich muss mich irgendwie einfühlen können“. | |
| ## Blutspur durchs Ausgehviertel | |
| Die Attentäter von vergangenem Freitag haben eine Blutspur durch das 10. | |
| und 11. Arrondissement gezogen, wo an warmen Abenden wie dem vergangenen | |
| Freitag selbst im November abends am Canal Saint Martin junge Leute mit | |
| Gläsern in der Hand stehen, trinken, rauchen, reden, lachen. Es ist das | |
| Ausgehviertel, in den letzten Jahren immer schicker geworden, aber noch | |
| sozial und ethnisch gemischt. „Die Terroristen haben dieses Viertel mit | |
| Absicht ausgewählt“, sagt Manotti, „sie haben es auf unsere Art zu leben | |
| abgesehen“ – den westlichen Lebensstil, das französische Savoir-vivre. | |
| Etwas trinken, gut essen, in guter Gesellschaft eine gute Zeit verbringen. | |
| Der Journalist Luc Le Vaillant will sich das nicht nehmen lassen. In einer | |
| sehr persönlichen Kolumne schreibt er in der Tageszeitung Libération: „Wir | |
| werden wieder im Bataclan Musik hören. Im Restaurant Le Petit Cambodge | |
| essen gehen. Wir werden uns wieder in der Rue Fontaine au Roi für die | |
| Könige der Welt halten. Wir werden eine gute Gruppe (belle équipe) sein, | |
| die die gute alte Zeit in der Rue de Charonne neu erfinden wird.“ | |
| Ganz beglückt liest Pascaline die Zeilen dieses Artikels vor. Mit ihrer | |
| Tochter Léontine, 17, lebt die Textildesignerin um die Ecke des Restaurants | |
| Belle Équipe in der Rue de Charonne, wo 19 Menschen starben. Mutter und | |
| Tochter waren nicht aus an diesem Freitagabend, zufällig, sie hörten die | |
| Sirenen, sahen die Blaulichter, kannten den Inhaber, die Angestellten, die | |
| Stammkunden, nicht alle haben überlebt. | |
| Oft schon waren sie im Bataclan, einem traditionellen Veranstaltungsort, an | |
| dem viele Konzerte stattgefunden haben – „sehr charmant und eher intim“. | |
| Warum haben sich die Attentäter diesen Club, dieses Lokal, ihr Viertel | |
| ausgesucht? „Weil man hier gut ausgehen kann“, sagt Léontine. „Und weil | |
| sich das Publikum genau deswegen mischt. Sie meinten uns, die junge | |
| Generation.“ Die „Generation Bataclan“, wie die Zeitung Libération am | |
| Montag schrieb. | |
| ## Multikulturelles Viertel | |
| Früher gab es im 10. Arrondissement Tischler, Polsterer, kleine | |
| Handwerksbetriebe, heutzutage ist es kein Kleine-Leute-Viertel mehr. Es | |
| gibt die Mittelschichtler, Künstler und Hippster – die Bobos –, aber auch | |
| die Alteingesessen – „wenn auch weniger als früher“, erzählt Pascaline. | |
| Doch noch gehören das 10. und 11. Arrondissement zu den Vierteln in Paris, | |
| die nicht komplett gentrifiziert oder in ein prunkvolles Museum verwandelt | |
| worden sind. | |
| Noch leben hier Asiaten, Afrikaner, Juden, Muslime, manchmal sogar | |
| Franzosen in einem Haus. Noch befindet sich in der Rue de Charonne, | |
| Hausnummer 61, zwischen all den kleinen hübschen Läden in einem stinkenden | |
| schäbigen Mietshaus eine kleine Kellermoschee, im Hausflur und im Hof | |
| ausschließlich Schwarze, nur der Hausverwalter ist weiß und verwehrt | |
| Fremden den Zutritt. | |
| Manotti, die feine und kühle Beobachterin, glaubt, dass gerade diese | |
| soziale Durchmischung im Viertel den Islamisten und Drahtziehern der | |
| Anschläge ein Dorn im Auge gewesen ist. „Sie haben das Gefühl, dass sie die | |
| Kontrolle über ihre Gemeinschaft verlieren.“ Denn zum ersten Mal bildeten | |
| sich muslimische Eliten heraus, sagt Manotti, die ausbrechen und ihren | |
| eigenen Weg in die französische Gesellschaft nehmen. „Solche | |
| Übergangsphasen sind immer heikel.“ | |
| Und weil die Erinnerung an den Kolonialismus und den Algerienkrieg noch | |
| immer präsent ist, gelänge es den Islamisten auch, unter den Muslimen in | |
| Frankreich Leute zu rekrutieren. Manchmal ist die Geschichte greifbar nah. | |
| In der Metrostation Charonne, gleich um die Ecke, sind am 8. Februar 1962 | |
| neun Demonstranten gegen den Algerienkrieg durch Polizeigewalt ums Leben | |
| gekommen. | |
| „Ich bin Muslimin und gegen den Terrorismus“, steht auf einem der Zettel im | |
| Lichtermeer gegenüber vom Bataclan. Von Tag zu Tag wächst die Zahl der | |
| niedergelegten Blumen, die meisten Sträuße wetterfest in Folie verpackt. | |
| Täglich kommen handgeschriebene Liebeserklärungen an verlorene Freunde | |
| dazu, politische Statements. | |
| Ganz vorn, in erster Reihe, kauern meist junge Leute, mit einem Teelicht in | |
| der Hand oder einer weißen Blume, still, nachdenklich, traurig. Hinter | |
| ihnen stehen die eher Neugierigen, trotzdem Anteilnehmenden, | |
| Zufallsbesucher oder Touristen, die mit dem Handy die Szenerie | |
| fotografieren – keine Selfies. In dritter Reihe die Transporter der | |
| Kamerateams und Polizeiautos. Der Platz der Republik ist eine große Bühne – | |
| nicht für die Journalisten aus aller Welt, sondern auch für Spinner, | |
| Agitatoren und Aktivisten in eigener Sache. | |
| ## Suche nach Sündenböcken | |
| Eben hat eine Frau mit Kopftuch eine Blume am Sockel der großen | |
| Bronzestatue mit der Marianne abgelegt. „Ihr seid schuld, dass die tot | |
| sind“, hat daraufhin ein Mann zu ihr gesagt. Die Frau ist längst in der | |
| Menge verschwunden, die Diskussion hat sich auf die Umstehenden verlagert. | |
| „Geht doch zurück“, sagt ein Mann. | |
| „Wohin?“, mischt sich eine junge Frau ein, „ich stamme von hier.“ Samir… | |
| in Frankreich als Kind von Algeriern geboren, gehört zum Kollektiv gegen | |
| die Islamophobie in Frankreich, das sich an diesem Tag wie eine | |
| Eingreiftruppe unter die Leute mischt. Die junge Frau um die 20 zerrt den | |
| Pressesprecher heran, Yasser Louati, der sofort loslegt, um von Überfällen, | |
| Hausdurchsuchungen, dem täglichen Rassismus gegen die arabischstämmige | |
| Bevölkerung zu berichten. Ein Land, die Stadt im Ausnahmezustand. Die | |
| Situation ist aufgeladen. Nicht nur Trauer, auch Wut ist zu spüren. | |
| Ein Franzose, Anfang 60, Brille, intellektueller Typ, verteidigt die | |
| republikanischen Werte, wie er sie versteht, und streitet mit Samira. „Ich | |
| bin gegen die Religion, gegen den Schleier.“ – „Ich bin für die | |
| Religionsneutralität“, hält Samira dagegen. „Das heißt für mich, frei | |
| entscheiden zu können, ob ich glaube oder nicht.“ | |
| ## Keine Demonstration | |
| Am 11. Januar 2015 kamen hier auf dem Platz der Republik – im ganzen Osten | |
| der Stadt – etwa anderthalb Millionen Menschen zusammen. Zum „Marsch der | |
| Entschlossenen“. Dieses Mal werden keine großen Kundgebungen stattfinden. | |
| Oriane und Audrey steht auch nicht der Sinn danach. Kaufhäuser, Kinosäle, | |
| U-Bahnstationen werden sie in den nächsten Wochen eher meiden. Ins Café La | |
| Marquise werden sie trotzdem zurückkommen, sich nicht einschüchtern lassen. | |
| „Der Marsch fehlt uns nicht“, sagt Oriane. | |
| Die Engländer haben inzwischen zwei Tore erzielt, die beiden jungen Frauen | |
| haben es kaum registriert. „Andere Städte haben für uns demonstriert“, sa… | |
| Audrey zufrieden. „Wir demonstrieren auf unsere Weise Entschlossenheit: | |
| Indem wir unsere Wohnung verlassen, Baguette und Käse kaufen.“ Den | |
| Käseteller, den sich die beiden teilen, haben sie nicht aufgegessen. | |
| 18 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabine Seifert | |
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