| # taz.de -- Machtlosigkeit gegen Stalking: Nerventerror pur | |
| > Er klopft an ihr Fenster, er schreibt tausende SMS und Mails. Er fährt | |
| > ihr in den Urlaub nach. Andrea Mau hat einen Stalker: ihren Expartner. | |
| Bild: Heute ist Ruhe. Angst hat Andrea Mau immer noch | |
| Rotenburg (Wümme) taz | Hunderte SMS, Anrufe, Mails. Auflauern vor dem | |
| Haus, vor der Arbeit, Verfolgen auf Schritt und Tritt. Das ist das Ergebnis | |
| einer Besessenheit. Die der Mann Liebe nennt und die Frau Verfolgung. Eine | |
| Besessenheit, die über viele Jahre andauert, drei Gerichte beschäftigt und | |
| die Polizei in Atem hält. Und gegen die das Strafgesetz machtlos ist. | |
| Es ist Januar 2006. Im Internet lernt Andrea Mau einen Mann kennen. M. ist | |
| ihr Beuteschema: groß, kräftig, charmant. Seit einiger Zeit ist sie | |
| getrennt vom Vater ihrer damals vierjährigen Tochter, sie sucht eine neue | |
| Liebe. Die zu M. ist groß, bald ziehen Mutter und Tochter zu dem neuen | |
| Freund. | |
| Doch Zärtlichkeit, Nähe und Harmonie sind begrenzt in dem Haus in einer | |
| Kleinstadt im Kreis Verden, Niedersachsen. Schon wenige Wochen nach dem | |
| Zusammenleben habe „der Terror“ begonnen, sagt Mau. Er beleidigt und | |
| beschimpft seine Freundin, würdigt sie vor anderen herab. | |
| „Er hatte seine Aggressionen nicht im Griff“, sagt Mau. So als wäre ein | |
| Schalter umgelegt worden, sei aus dem zugewandten Partner jemand geworden, | |
| vor dem Mau sich nun fürchtete. | |
| ## Auszug nach zwei Jahren | |
| Zwei Jahre geht das so, dann suchen sich Mutter und Tochter eine eigene | |
| Wohnung. Wenige Kilometer weiter, in Rotenburg (Wümme). Einem Ort, in dem | |
| 21.000 Menschen leben, die Straßen sauber sind und die Häuser flach. Die | |
| beliebteste Buchstabenkombination bei Autokennzeichen hier ist ROW DY. | |
| Aber Ruhe hat die Frau vor dem Exfreund nicht. Jetzt ging es erst richtig | |
| los, sagt Mau. Die Frau ist das, was manche gern „handfest“ nennen: groß, | |
| kräftig, mit einem zupackenden Händedruck. Wenn sie auf dicken Stricksocken | |
| durch ihr Haus läuft, scheint der Boden unter ihren Füßen zu vibrieren, so | |
| fest tritt sie auf. Warum sind Frauen wie sie machtlos gegen Männer wie M.? | |
| M. verfolgt sie ins Erlebnisbad, wo sie als Physiotherapeutin arbeitet. Er | |
| steht vor dem Haus, wenn sie heimkommt. Er fliegt ihr in den Urlaub nach | |
| Ägypten hinterher und quartiert sich im selben Hotel ein. Er veröffentlicht | |
| „Liebesbotschaften“ in der Lokalpresse: „Andrea, bitte lass uns endlich | |
| unsere Zukunft leben. Ich liebe und begehre dich. Dein M.“ Er schreibt ihr | |
| jeden Tag unzählige SMS, so was wie: „Ich werde dich nicht aufgeben.“ | |
| ## Stalking, seit 2007 strafbar | |
| Für das, was M. tut, gibt es einen Begriff: Stalking. Kein ausschließliches | |
| Prominentenproblem, sondern eines, das zehn Prozent der „normalen“ | |
| Bevölkerung betrifft. Die Hälfte der Fälle sind Beziehungstaten, Frauen | |
| werden viermal häufiger gestalkt als Männer – von Expartnern, Exliebhabern, | |
| Exehemännern. | |
| Seit 2007 wird Stalking durch den Nachstellungsparagrafen 238 im | |
| Strafgesetzbuch geahndet. Menschen, die andere beharrlich belästigen, sie | |
| anrufen, ihnen schreiben, in ihrem Namen oder für sie Waren bestellen, | |
| machen sich strafbar. | |
| Andrea Mau speichert alle SMS und Mails auf ihrem Rechner, im Laufe der | |
| Jahre werden es über 4.000 Nachrichten sein. Detailliert schreibt sie auf, | |
| was M. macht: Wie lange er vor dem Haus herumlungert, was er zu ihr sagt. | |
| Das „Stalking-Tagebuch“ füllt mehrere Aktenordner in ihrem | |
| Wohnzimmerschrank. Sie schaltet den Anrufbeantworter ihres | |
| Festnetzanschlusses aus, sie geht nicht mehr ans Handy. | |
| „Es ist Nerventerror pur“, sagt sie. Fast jeden Tag geht sie zur Polizei | |
| und zeigt den Exfreund an. Sie stellt sich vor die Tür, wenn er davor | |
| wartet und schreit: „Hau ab!“ Doch es nutzt alles nichts. M. bleibt | |
| beharrlich. | |
| ## Das Gesetz greift nicht | |
| Die Jahre vergehen. Die Tochter geht mittlerweile zur Schule, Mau hat sich | |
| selbstständig gemacht mit einer eigenen Physiotherapiepraxis. Manchmal | |
| nimmt die Polizei M. fest. Am nächsten Tag parkt sein Auto wieder vor ihrer | |
| Tür, klopft ans Fenster, ruft an. | |
| Mau ist machtlos. Die Beamten sind es auch. Denn der Stalkingparagraf | |
| greift nur, wenn das Leben des Opfers sichtbar beeinträchtigt ist: Wenn es | |
| sich nicht mehr aus dem Haus wagt, umzieht, den Job wechselt. Der Schutz | |
| des Strafrechts scheitert also, wenn sich die Betroffenen wehren. Wenn sie | |
| versuchen, ihren Alltag normal weiterzuleben. | |
| So ein Fall ist Andrea Mau. Sie will in Rotenburg wohnen bleiben, ihre | |
| Tochter soll die Schule nicht wechseln. Wer kann es sich schon leisten, | |
| seine Existenz immer wieder von vorn aufzubauen? Der Darmstädter Psychologe | |
| Jens Hoffmann nennt Stalker „Identitätsvampire“. | |
| ## Maas will Stalking-Gesetz ändern | |
| 19.704 Stalkingverdächtige zählt die Polizeiliche Kriminalstatistik 2015. | |
| Jedes Jahr wird aber nur etwa ein Prozent der Täter verurteilt, der | |
| Stalkingparagraf ist zu eng gefasst. Das will Justizminister Heiko Maas | |
| (SPD) [1][jetzt ändern]. Er plant, bis zum Sommer das Strafrecht so zu | |
| ändern, dass es nicht mehr auf einen Erfolg des Täters ankommt, sondern | |
| dass Betroffene – so wie Andrea Mau – standhaft bleiben dürfen und die | |
| Täter trotzdem verurteilt werden. | |
| Im Referentenentwurf zu dem Gesetz ist die Rede von einer „Freiheitsstrafe | |
| bis zu drei Jahren oder Geldstrafe“ für diejenigen, die sich anderen | |
| unerlaubt nähern, sie ständig anrufen, ihnen SMS und Mails schreiben oder | |
| über Dritte Kontakt suchen. | |
| Ohnehin ist das mit der sichtbaren Standhaftigkeit so eine Sache. Mau zieht | |
| zwar nicht um, sie versteckt sich nicht. Aber sie ist schwer traumatisiert. | |
| Sie erhält Psychotherapie und hat regelmäßig Kontakt mit einer | |
| Opferberatungsstelle. Ganz Rotenburg verfolgt die Geschichte. Auf der | |
| Straße wird Mau von fremden Männern angesprochen: „Fick mich.“ | |
| ## Tief im Gedächtnis | |
| „Auch wenn das unbeugsame Opfer sich dem Terror nicht beugt, leidet es am | |
| Ende oft mehr als diejenigen, die ausweichen und versuchen, sich unsichtbar | |
| zu machen“, sagt Jürgen Schulz vom Weißen Ring in Rotenburg. Von seinem | |
| Wohnzimmer aus betreut der Polizist ehrenamtlich Gewaltopfer. Mau sieht er | |
| während der „Stalkingzeit“ regelmäßig. | |
| „Erlebnisse wie ein Einbruch, ein Überfall, eine Vergewaltigung oder | |
| Stalking prägen sich tief im Gedächtnis der Opfer ein“, sagt Schulz: | |
| „Manche werden das ihr Leben lang nicht mehr los.“ Sie leiden an Ängsten, | |
| Schlafstörungen, Magenschmerzen und einem schlechten Immunsystem, sagt | |
| Katja Grieger vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in | |
| Berlin. „Manche haben Suizidgedanken“, sagt die Gewaltexpertin. | |
| Die Polizei ermittelt gegen M., Gerichte drohen ihm Strafen an. Im Oktober | |
| 2010 erlässt beispielsweise das Familiengericht Rotenburg eine einstweilige | |
| Anordnung: M. „wird untersagt, sich der Wohnung der Antragstellerin bis auf | |
| eine Entfernung von 20 Metern zu nähern“. Er darf sie nicht anrufen, keine | |
| Mails und keine SMS schreiben. 144 SMS zählt das Gericht allein in der | |
| Zeit vom 5. bis 28. November 2010. Die aufgelisteten Stalkingangriffe | |
| füllen mehrere Seiten. | |
| In einer nächsten Anordnung von Januar 2011 wird M. die Zahlung eines | |
| Ordnungsgelds von bis zu 250.000 Euro oder Ordnungshaft bis zu sechs | |
| Monaten angedroht. Weitere Anordnungen folgen, von der Staatsanwaltschaft | |
| Verden, vom Amtsgericht Rotenburg, vom Familiengericht Rotenburg. | |
| ## „… der Nachstellung … schuldig“ | |
| All das interessiert M. nicht. Er belagert Mau weiter. Auch Nachbarn | |
| beobachten ihn beim Stalken, zeigen ihn an. Es juckt ihn nicht. Stattdessen | |
| schwärzt er seine Exfreundin bei den Behörden an: Sie soll zu Unrecht | |
| Wohngeld bezogen haben. | |
| Plötzlich wendet sich das Blatt. Am 29. Februar 2012 verurteilt das | |
| Amtsgericht Rotenburg M. zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten auf | |
| Bewährung. „Der Angeklagte ist der Nachstellung in Tateinheit mit dem | |
| Verstoß gegen das Gewaltschutzgesetz schuldig“, begründet die Richterin. | |
| Was war passiert? M. wurde nicht wegen Stalking verurteilt, sondern wegen | |
| häuslicher Gewalt. Wegen Rippenbrüchen, Prellungen, aufgeplatzter | |
| Augenbrauen und Lippen. All das hat M. Andrea Mau zugefügt, damals zwischen | |
| 2006 und 2008, als die beiden noch ein Paar waren und zusammenlebten. | |
| Zugespitzt und zynisch könnte man sagen: Mau hat Glück gehabt. Sie wurde | |
| von M. nicht nur gestalkt, sondern auch noch verprügelt, gewürgt, an die | |
| Wand geworfen. Im Krankenhaus, wo Mau aufgrund der schweren Verletzungen | |
| damals behandelt wurde, dokumentierten Ärzte blaue Flecken, Platzwunden, | |
| Blutergüsse. Das sind sichtbare Beweise heftiger Gewalt. Die kann man | |
| leichter ahnden. Dem Psychoterror ist mit dem Stalkingparagrafen, so wie er | |
| noch existiert, nicht beizukommen. | |
| Nachdem die Richterin das Urteil verlesen hatte, soll sie den Täter gewarnt | |
| haben: „Wenn Sie nicht endlich aufhören, buchte ich Sie ein.“ Seitdem ist | |
| Ruhe. M. lässt sich nicht mehr blicken, er ruft nicht mehr an. Aber Angst | |
| hat Andrea Mau immer noch. | |
| 11 Jun 2016 | |
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| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
| Karin Desmarowitz | |
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