| # taz.de -- Uwe Carstens über Flüchtlinge nach 1945: „Europa hat nichts gel… | |
| > Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen mehr Flüchtlinge als heute. Die Fehler | |
| > der überforderten Bürokratie aber sind die gleichen, sagt Soziologe Uwe | |
| > Carstens | |
| Bild: Notunterkünfte der 1940er: Nach dem Architekten Norman Nissen hießen si… | |
| taz: Herr Carstens, wie verteilten sich die rund 14 Millionen Flüchtlinge, | |
| die nach 1945 aus den einstigen deutschen Ostgebieten herkamen? | |
| Uwe Carstens: Rund eine Million Flüchtlinge kam zum Beispiel nach | |
| Schleswig-Holstein. Nach Niedersachsen kamen circa 1,7 Millionen Menschen, | |
| nach Bayern 1,6 Millionen. Die Hauptlast, gemessen an Landesgröße und | |
| Bevölkerungszahl, trug Schleswig-Holstein. | |
| Warum kamen so viele nach Schleswig-Holstein? | |
| Weil die alliierten Besatzer die Flüchtlinge in die Gegenden brachten, die | |
| im Krieg am wenigsten zerstört worden waren. Und wenn man vom – zu 70 | |
| Prozent – zerstörten Kiel absieht, waren das randständige, meist eher | |
| ländliche Gebiete. | |
| Wie erging es den Flüchtlingen nach der Ankunft? | |
| Sie flohen ja auf verschiedenen Wegen vor der sich nähernden Roten Armee. | |
| Zunächst kamen sie in Trecks oder mit Zügen etwa aus Pommern, Schlesien | |
| oder Ostpreußen. Später, als die Rote Armee den Landweg abgeriegelt hatte, | |
| auf Schiffen. Nach ihrer Ankunft wurden sie verpflegt und mit Bussen oder | |
| LKW auf die Unterkünfte verteilt. | |
| Wie sahen die Unterkünfte aus? | |
| In der Gegend um Kiel brachte man die meisten in rund 50 Barackenlagern | |
| etwa des „Reichsarbeitsdienstes“ der Nazis, in denen später Kriegsgefangene | |
| und Zwangsarbeiter gelebt hatten. Diese „Displaced Persons“ hatten die | |
| Lager 1945 verlassen und alles mitgenommen, was möglich war. Die deutschen | |
| Ostflüchtlinge fanden daher kahle Räume vor, in denen sie auf dem blanken | |
| Fußboden schlafen mussten. Erst später haben die Briten Bauern | |
| verpflichtet, Stroh in die Baracken zu legen. | |
| Andere Flüchtlinge wohnten in „Nissenhütten“. | |
| Ja, die hatte der amerikanisch-kanadische Ingenieur Peter Norman Nissen im | |
| Ersten Weltkrieg für das britische Militär entworfen. Es waren 40 | |
| Quadratmeter große Hütten mit halbrundem Wellblechdach, die vier Mann in | |
| vier Stunden aufbauen konnten. Sie hatten im Ersten Weltkrieg vor allem auf | |
| britischen Feldflugplätzen gestanden. Im Nachkriegsdeutschland lebten darin | |
| meist zwei Flüchtlingsfamilien. | |
| Eignen sich Nissenhütten als dauerhafte Wohnung? | |
| Nein. Im Sommer wurde es unter dem Wellblech brütend heiß, im Winter bis zu | |
| minus 13 Grad kalt. Außerdem bildete sich im Winter so viel Kondenswasser, | |
| dass die Hütten auch „Tropfsteinhöhlen“ hießen. Die Leute, die dort | |
| wohnten, hatten kein trockenes Kleidungsstück mehr. | |
| Wurden die Menschen da nicht krank? | |
| Doch, der Krankenstand war sehr hoch. Und der zuständige Stadtarzt, der von | |
| Lager zu Lager zog, ging danach jedes Mal zum Kieler Stadtkommandanten und | |
| sagte: Es ist untragbar, was die Leute dort erleiden müssen. Die britischen | |
| Besatzer, die noch die Gräuel der deutschen KZ vor Augen hatten, reagierten | |
| allerdings sehr zögerlich und hatten zunächst wenig Mitleid mit dem | |
| einstigen Feind. | |
| Viele Flüchtlinge lebten auch in Massenunterkünften. | |
| Ja, das waren größere Baracken oder auch Hallen, die bis zu 800 Menschen | |
| aufnahmen. Diese versuchten, durch Decken eine gewisse Privatsphäre | |
| herzustellen, oder mit Kreidestrichen oder Steinen das ihnen zugewiesene | |
| Areal abzugrenzen. | |
| Boten die Massenunterkünfte psychologische Betreuung? | |
| Nein. Diese Menschen waren alle traumatisiert, aber das war kein | |
| Krankheitsbild, kein Thema. | |
| Auch nicht die massenhaften Vergewaltigungen im Laufe von Vertreibung und | |
| Flucht? | |
| Das interessierte damals so wenig wie heute. | |
| Wie lange bestanden die Massenunterkünfte? | |
| Sie wurden ab 1951 aufgelöst, die Bewohner in Baracken mit richtigen Räumen | |
| umquartiert. Dafür mussten sie allerdings Miete zahlen. Möbel kosteten | |
| extra. | |
| Konnten sich die Flüchtlinge das leisten? | |
| Eigentlich nicht. Wer über wenig finanzielle Möglichkeiten verfügte, musste | |
| in den Massenquartieren ausharren. | |
| Das heißt: Je bedürftiger einer war, desto länger musste er in einer | |
| Massenunterkunft leben. | |
| Ja. In Kiel zum Beispiel wurden 13 Flüchtlingslager später in | |
| Obdachlosenlager umgewidmet. Da lebte dann die „soziale Nachhut“. | |
| Und wer kam in Privatquartiere? | |
| Flüchtlinge auf dem Land. Da gab es meist keine Baracken, sodass man die | |
| Leute in Privatwohnungen und auf Bauernhöfen zwangseinquartierte. | |
| Freute das die Einheimischen? | |
| Meistens nicht, aber das ist natürlich ambivalent: Wenn sich die Leute mit | |
| den Flüchtlingen verstanden, freundeten sie sich an. Wenn nicht, gab es | |
| Reibungen. | |
| Eine Willkommenskultur existierte 1945 nicht? | |
| Nein. Die Deutschen hatten einen Krieg verloren, der Mann war vielleicht in | |
| Kriegsgefangenschaft – und dann noch die Zwangseinquartierung. Die Leute | |
| fühlten sich bestraft und verdrängten, dass die Deutschen selbst den Krieg | |
| begonnen hatten. | |
| Blieben eigentlich alle Flüchtlinge in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, | |
| Bayern? | |
| Nein, denn man einigte sich später auf ein „Zonenaustauschprogramm“. Diese | |
| Flüchtlingsumverteilung zwischen der stark belasteten britischen und den | |
| anderen drei Besatzungszonen gestaltete sich aber schleppend, weil die | |
| französische, amerikanische und sowjetische Zone keine Flüchtlinge | |
| aufnehmen wollten. Auch die Flüchtlinge wollten nicht überall hin. 1946 | |
| wurden viele zum Beispiel zwangsweise in die Sowjet-Zone gebracht. | |
| Und ab wann bezogen die Flüchtlinge eigene Wohnungen? | |
| Als der Sozialwohnungsbau in den 1950er-Jahren wieder begann, wurden | |
| „Barackenräumprogramme“ aufgelegt. 1950 lebten noch 245.000 Flüchtlinge in | |
| Lagern, 1955 nur noch 55.000. Ende der 1960er-Jahre gab es kein | |
| Flüchtlingslager mehr. | |
| 2015 erlebte Deutschland eine neue Zuwanderungswelle von rund einer Million | |
| Menschen. Ähnelt die Lage der von 1945? | |
| Nein, denn 1945 kamen ja insgesamt zwölf bis 14 Millionen. Und wenn ich | |
| heute höre, dass Leute sagen, wir können diese Flut nicht aufnehmen, bin | |
| ich fassungslos und möchte manchen antworten: Weißt du, dass wir vor 70 | |
| Jahren deine Großmutter aufgenommen haben, die aus Pommern oder Königsberg | |
| kam? Und wer muss heute auf etwas verzichten, weil aus Syrien Menschen | |
| kommen? | |
| Ist wenigstens die Bürokratie besser vorbereitet als 1945? | |
| Nein, und das, obwohl heute kein Nachkriegs-Chaos herrscht. Aber wenn ich | |
| sehe, dass unsere Behörden immer noch Hunderttausende Flüchtlinge nicht | |
| registriert haben, bin ich sehr verwundert. | |
| Wie beurteilen Sie den Standard der heutigen Unterkünfte? | |
| Der ist wesentlich höher als 1945. Außerdem kann man heute viel schneller | |
| Notunterkünfte und sanitäre Anlagen bauen und Verpflegung organisieren. | |
| Aber auch die heutigen Massenunterkünfte sind unbeliebt. | |
| Ja, und das wird immer so sein – weil man dort die Intimsphäre nicht wahren | |
| kann. | |
| Außerdem besteht die Tendenz, Unterkünfte in die Peripherie zu verbannen. | |
| Ja, und das ist eine deutliche Parallele zu 1945. Damals lagen die | |
| Unterkünfte stets in der Peripherie, hatten sogar eigene Lagerschulen, was | |
| die Ausgrenzung verstärkte. Aber ich fürchte, dass wir diesen Fehler | |
| wiederholen und Flüchtlinge an Orte bringen, wo sie keinen Kontakt zu | |
| Einheimischen haben. | |
| Dafür suchen viele Einheimische von sich aus Kontakt. | |
| Ja, und diese Hilfsbereitschaft und Willkommenskultur ist ein deutlicher | |
| Fortschritt. In diesem Punkt hat die Zivilgesellschaft aus der Geschichte | |
| gelernt. | |
| Und was hat Europa gelernt? | |
| Gar nichts. Europas Staaten sträuben sich – wie damals die Besatzungszonen | |
| – gegen Flüchtlinge. Dass sich Europa als so solidaritätsfremd erweist, ist | |
| erschreckend. | |
| 22 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
| ## TAGS | |
| Architektur | |
| Unterbringung von Geflüchteten | |
| Unterbringwettbewerb | |
| Unterbringung | |
| Stadtentwicklung | |
| Fans | |
| Bremen | |
| Stadtplanung | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| EMtaz: Kommentar EM-Start: Teilurlaub fürs Gehirn | |
| Die EM beginnt in einer für Europa kritischen Zeit. Viele wenden sich ab. | |
| Dabei könnte sie auch ein Grund zur Erholung sein. | |
| Orte zum Leben: „Der Schlüssel: eine eigene Wohnung“ | |
| Bei der Architektur-Biennale in Venedig präsentiert das Bremer Büro | |
| Feldschnieders + Kister temporäre Unterkünfte: Gelungene Konzepte, in der | |
| Praxis bewährt | |
| Traum oder Albtraum: Luft nach oben | |
| Wenn der Wohnraum in den Städten knapp wird, könnte man in die Höhe bauen. | |
| Doch unser Verhältnis zu Hochhäusern ist ambivalent. | |
| Nach der Bauausstellung: Scheitern als Chance | |
| Die Architektenkammer Berlin diskutiert das Aus der Bauausstellung und über | |
| Formate zur Fortführung. Dabei wurde mehr geschimpft als geplant. | |
| Zensur bei Architekturbiennale: Sehnsucht lieber ohne Führer | |
| Ein Text von Andreas Neumeister flog aus dem Katalog zum deutschen Beitrag | |
| der Architekturbiennale raus. Zu lang, hieß es. Tatsächlich störten | |
| Verweise auf die NS-Zeit. Die taz publiziert ihn. | |
| Architekt Deyan Sudjic rechnet ab: Geldgierige Huren | |
| "Berliner Lektionen": Deyan Sudic wirft seinem Berufstsand vor, für Ehre | |
| und Ruhm einfach alles zu tun - im Dienste der Macht und der Mächtigen. |