# taz.de -- Debatte Protestbewegungen: Die Revolution ist ein Spaziergang | |
> Der Rest der Welt hat die Empörten. Warum ist in Deutschland die größte | |
> Spazierbewegung, die politischen Einfluss hat, Pegida geblieben? | |
Bild: Ist es System genug, durch die Straßen zu spazieren und zu informieren? | |
Es war der 15. Mai vor fünf Jahren, als die Empörten Europas, Los | |
Indignados, durch Spaniens Straßen zogen. Kurz darauf kam Occupy, und jetzt | |
sind es die Franzosen mit dem schönen Namen Nuit Debout. Sie alle eint | |
dasselbe Ziel – und dieselbe Ziellosigkeit. | |
Die Bilder dieser Proteste lösen etwas zwischen Hoffnung und Abgeklärtheit | |
in mir aus. Hoffnung, weil Menschen noch Hoffnung haben, auf diese Weise | |
etwas ändern zu können. Abgeklärtheit, weil man ihre Hoffnung nicht ganz | |
teilt. Kann ich wirklich mit meiner Empörung, die ich friedlich auf die | |
Straße trage, etwas an den derzeitigen Zuständen ändern? | |
Am 15. Mai spaziere ich durch Barcelona und finde mich plötzlich inmitten | |
von Menschenmassen wieder. Sie tragen Banner gegen ein Europa der Banken, | |
gegen ein Europa der Mauern und der Illegalisierung von Menschen auf der | |
Flucht. Sie sind gleichzeitig gegen tausend andere Dinge, mit denen ich | |
mich längst abgefunden zu haben glaube, doch vor allem sind sie: Tausende. | |
Manche sind jung, schön und chic, andere sind alt, verlebt und tragen nicht | |
einmal eine Zahnprothese. Ich frage mich, ob sie überhaupt eine haben. Es | |
ist eben nicht nur das Gesundheitssystem der USA, das Lücken lässt. | |
Tausende von Menschen demonstrieren sich durch eine der schönsten Städte | |
Europas, die meisten mit einem Lachen im Gesicht. | |
## Anschreien gegen die Macht | |
Zwei ältere Frauen, die ohne Prothese im Mund hinter einem Banner | |
herlaufen, hämmern mit einem Kochlöffel auf ein Tablett ein und schreien | |
sich die Seele aus dem Leib. Ein alter Mann, einer, der vermutlich früher | |
gern und oft die Internationale gesungen hat, gibt ein Fernsehinterview. Er | |
gestikuliert gegen die Herrschenden an. Ohne ein Wort zu verstehen, weiß | |
man: Er lässt das alles nicht mehr mit sich machen. Der smarte Journalist | |
nimmt ihm seine Rage in aller Ruhe ab. Die Emotion gehört dem alten Mann. | |
Ich mache Bilder von der Menschenmenge, ziehe mit der Kolonne durch die | |
Stadt: Katalanen, Pakistaner, Schwarze, nur wenige Asiaten, einige von | |
ihnen sperren unterdessen die Türen ihrer Geschäfte zu. Auf den Balkonen | |
der edlen Wohnviertel sieht man gut gekleidete Anwohner, wie sie skeptisch | |
nach unten blicken. | |
Dank Twitter ist schnell klar, wo ich hier reingestolpert bin: Nuit Debout | |
goes Global. [1][#GlobalDebout]. Am 15. Mai wollten die Bewegungen aller | |
Empörten weltweit öffentliche Plätze besetzen. Über die Timeline erreichen | |
mich Bilder aus der ganzen Welt. Meine Bilder von der Demo werden weltweit | |
geteilt und gezwitschert. Für einen kurzen Moment das Gefühl, diese ganze | |
„Wir 99 gegen 1 Prozent“-Rhetorik ist nicht vorbei. Stéphane Hessel ist | |
doch nicht tot. Doch was bringt es? Und wohin führt es? | |
## Ein Mehrgenerationenhaus spaziert durch die Stadt | |
In Frankreich werden die Proteste von gewalttätigen Ausschreitungen | |
überschattet. In Barcelona hingegen wirkt das alles, als würde ein | |
Mehrgenerationenhaus sich aufmachen, um durch die Stadt zu spazieren. | |
Trotzdem eine große Kraft in der Menge. Ich weiß, man wirft diesen | |
Bewegungen vor, keine Systematik entwickelt zu haben, um gegen die | |
herrschenden Strukturen anzugehen. Wenn man sich jedoch ansieht, was aus | |
vielen 68ern geworden ist, fragt man sich, ob es, neben der Strategie, zu | |
werden wie die, die man bekämpft, wirklich eine andere Systematik gibt, | |
diese Strukturen anzugehen. | |
Ist es nicht vielleicht System genug, durch die Straßen zu spazieren und zu | |
informieren? Die Partei Podemos ist so bis ins Parlament gekommen. | |
Bewusstsein schaffen, darum geht es ihnen. Auch wenn das manchmal eher nach | |
Bestseller-Ratgeberbüchern als nach Politik klingt. | |
Die Katalanen möchten mit diesen friedlichen Märschen sogar in die | |
Unabhängigkeit spazieren. Ich muss zugeben: Als Ex-Jugoslawin stehe ich mit | |
Bewunderung und Ungläubigkeit vor so viel Optimismus. Man kann von diesen | |
Menschen nicht viel über Macht lernen, aber doch etwas über Gemeinschaft. | |
Und ist der Mangel an Gemeinschaftssinn nicht das, woran diese Gesellschaft | |
des „@me-Kapitalismus“ vor allem krankt? | |
Die Demonstranten in Barcelona tragen Bücher linker Autoren vor sich her, | |
die Gedanken derer, die sie inspirieren, für jedermann ausgestellt. Im | |
Kapitalismus werden auch jene Bücher gedruckt, die ihn abschaffen wollen. | |
Der Kapitalismus ist kein einfacher Feind. Es ist nur schwierig, ihn sich | |
zum Freund zu machen, weil die Superegoisten schnell darin sind, ihre | |
„Alles-mir-Strategien“ umzusetzen. Am 15. Mai spazierten auf der ganzen | |
Welt Menschen, die, obwohl sich wenig ändert, noch an die Empörung als | |
homöopathisches Heilmittel glauben. | |
## Spazieren für den Statuserhalt | |
Ich suche im Internet nach Berlin und sehe eine Handvoll Menschen auf dem | |
Mariannenplatz in Kreuzberg sitzen. Warum ist in Deutschland die größte | |
Spazierbewegung, die politischen Einfluss hatte, Pegida geblieben? Warum | |
spaziert man in Deutschland für den Erhalt des eigenen Status, so homogen | |
wie möglich, während die Demonstranten in Spanien so vielfältige Anliegen | |
haben? Die einen fordern mehr Geld für Arbeit, die anderen Papiere und | |
Bürgerstatus. Was ist in Deutschland aus dem Wort Gemeinschaft geworden? | |
Deutschland schien letzten Sommer begriffen zu haben: Die Welt geht uns | |
alle an. Und jetzt? Lassen wir die anderen spazieren, lassen wir die | |
anderen für Gerechtigkeit kämpfen. Gerechtigkeit kostet, aber bezahlen | |
wollen wir für sie nicht. | |
Gerechtigkeit ist eng gekoppelt an den Gedanken der Solidarität: Dein | |
Leben, dein Schicksal geht mich an. Haben wir diesen Gedanken mit der | |
Agenda 2010 auch abgeschafft? Innerhalb Europas hat Deutschland | |
jahrzehntelang schamlos vorgelebt, wie wenig uns der Süden kümmert. Worum | |
wir uns kümmerten, war unsere Exportweltmeisterschaft. Ein kurzer Sommer | |
der offenen Grenzen. Seither geht Tag für Tag eine Tür mehr zu. Wir | |
bemerken es kaum noch. | |
Doch an diesem 15. Mai, an dem die Empörten, die für Gerechtigkeit und | |
Solidarität kämpfen, um die Welt spazierten, ist auch in Dresden Montag. Es | |
ist an der Zeit, dass auch in Deutschland wieder mehr Menschen mit den | |
Empörten dieser Welt spazieren. | |
19 May 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/search?q=%23GlobalDebout&src=typd | |
## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
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