# taz.de -- Streit um Gender Studies: „Hier wird Stimmung gemacht“ | |
> Als unwissenschaftlich und Unfug wird in der „SZ“ die | |
> Geschlechterforschung an den Universitäten bezeichnet. Zu Unrecht. Eine | |
> Replik. | |
Bild: Und wer geht später mal zur Feuerwehr? | |
Wenn in der deutschen Presselandschaft über „die Gender-Forschung“ | |
geschrieben wird, geschieht dies zumeist in kritischer Absicht. Dagegen ist | |
zunächst nichts einzuwenden, allerdings beruhen die meisten Artikel | |
anscheinend auf einer völligen Unkenntnis des Faches. Zuletzt versuchte | |
sich der [1][SZ-Autor Christian Weber unter der Rubrik „Gesellschaft und | |
Forschung“] an einem Rundumschlag gegen die Gender Studies, indem er sie | |
als unwissenschaftlich, unsolide, kurz: als „Unfug“ bezeichnete. Die | |
Gründe, die er anführte, sind banal: Es gebe nun mal einen Unterschied | |
zwischen Männern und Frauen, der sei natürlich „natürlich“, und gerade d… | |
wolle die Genderforschung „wegdiskutieren“ – obwohl die „empirische | |
Forschung“ zu ganz anderen Ergebnissen komme. | |
Allerdings gehören die konstruktivistischen Theorien, gegen die der Autor | |
wettert, zum Kanon aller Sozial- und Geisteswissenschaften und sind | |
bestimmt kein Alleinstellungsmerkmal der Gender Studies. Der Mediziner und | |
Serologe Ludwik Fleck begründete diese Erkenntniskritik in den 1930er | |
Jahren, indem er anhand eines naturwissenschaftlichen Beispiels aufzeigte, | |
wie selbst „wissenschaftliche Tatsachen“ kulturell, historisch und sozial | |
verfasst sind. | |
„In der Naturwissenschaft gibt es gleich wie in der Kunst und im Leben | |
keine andere Naturtreue als die Kulturtreue“, so der Fleck’sche Wortlaut. | |
Das bedeutet, dass der wissenschaftliche Blick nicht vor dem vermeintlich | |
Natürlichen Halt machen darf, sondern dass alle Phänomene – erscheinen sie | |
uns auch noch so selbstverständlich – kulturell situiert sind. | |
Geschlecht und Geschlechterordnungen sind dafür ein gutes Beispiel. Oder, | |
um es mit den Worten von Herrn Weber zu sagen: Vagina und Penis sind nicht | |
einfach da und zeugen von Sprachvermögen und Rechenkompetenz. Vielmehr | |
werden sie mit bestimmten Bedeutungen aufgeladen, die historisch zwar | |
variabel, aber sozial wirksam sind. Geschlecht ist daher immer noch ein | |
gesellschaftlicher Platzanweiser und entscheidet zum Beispiel darüber, wer | |
die Sorgearbeit verrichtet, wer in Teilzeit geht und wer – um wieder Herrn | |
Weber zu zitieren – ein ausschweifendes Sexleben haben darf und wer eben | |
nicht. | |
## Neue Angriffsziele | |
Nun sind Erkenntnistheorien mindestens so voraussetzungsvoll wie | |
Astrophysik. Dennoch stehen nur selten Himmelserscheinungen im Zentrum des | |
feuilletonistischen Interesses. Dies führt zu der Annahme, dass die | |
Angriffe gegen die Geschlechterforschung nicht inhaltlich motiviert sind. | |
Vielleicht hat die politische Debatte über Geschlechtergerechtigkeit | |
ausgedient – denn was ist dem Gender Pay Gap und der Altersarmut von Frauen | |
schon an Polemik entgegenzusetzen? Also wird die Auseinandersetzung über | |
Geschlechterfragen auf ein neues Terrain verschoben, dem der Wissenschaft. | |
Allerdings ist der Subtext ein ähnlicher: Der Kampf für Gleichberechtigung | |
sei ebenso unnötig wie die Geschlechterforschung, Gender Mainstreaming und | |
Gender Studies seien Verschwendung von Steuergeldern, alles ist eben | |
natürlich, die Vagina genauso wie die Teilzeitbeschäftigung, warum sich | |
also darüber aufregen oder dazu forschen? | |
Dabei bleibt aber eine grundsätzliche Frage offen: Wenn Gender-Forschung | |
unwissenschaftlich ist, warum ist sie dann an deutschen Universitäten | |
etabliert? Gibt es etwa ein Leck in der Qualitätskontrolle? Drückt die DFG | |
bei der Gender-Forschung ein Auge zu? Sind die Berufungsstandards bei | |
Professuren mit Gender-Denomination andere? Kurz: Ist das deutsche | |
Wissenschaftssystem dem Untergang geweiht, da Gender Studies berücksichtigt | |
werden? | |
In Deutschland gibt es nur einige wenige Lehrstühle, die über eine | |
dezidierte Gender-Studies-Denomination verfügen. In der Regel finden Lehre | |
und Forschung über Geschlecht innerhalb einer Kerndisziplin statt, die sich | |
in der Denomination durch den Zusatz „unter Berücksichtigung von | |
Geschlecht/Gender“ auszeichnet – zum Beispiel „Geschichte der frühen | |
Neuzeit und Geschlechtergeschichte“ oder „Lehrstuhl für Soziologie/Soziale | |
Ungleichheit und Geschlecht“. Hier zeigt sich, dass Geschlechterforschung | |
ein interdisziplinäres Fach ist, welches Theorien und Methoden | |
unterschiedlichster Disziplinen wie Soziologie, Geschichtswissenschaft, | |
Biologie, Politologie, Ökonomie, Medizin, Rechtswissenschaft oder | |
Psychologie vereint. | |
Das bedeutet aber auch, dass jede Berufung und jeder Forschungsantrag den | |
Gepflogenheiten der jeweiligen Disziplin entsprechen müssen. Wenn also | |
gegen „die Gender Studies“, die „zu einem Großteil den Stand der | |
empirischen Wissenschaften ignorieren“, gewettert wird, betrifft diese | |
Kritik den Kern eines jeden einzelnen Fachs. Geschlechterforschung ist | |
immer mit den methodischen Verfahrensweisen einer Disziplin verstrickt – | |
sei es die empirische Sozialforschung, die historische Quellenanalyse oder | |
die rechtswissenschaftliche Auslegung eines Paragrafen. | |
## Stimmungsmache | |
Daher sind die Angriffe auf ein Fach, das wie jedes andere ständig | |
evaluiert, akkreditiert, peer-reviewed und qualitätsgesichert wird, | |
haltlos. Willentlich – und keinesfalls aufgrund von Unkenntnis und | |
Informationsdefiziten – wird hier Stimmung gemacht, und dies auf Kosten des | |
gesamten Wissenschaftssystems. Denn wer Gender Studies infrage stellt, kann | |
sich gleich auch Germanistik, Biologie oder Ökonomie vornehmen. Zur Debatte | |
steht nämlich nicht die Unwissenschaftlichkeit einer einzigen Disziplin, | |
sondern die des gesamten Wissenschaftssystems. Geschlechterforschung ist | |
ebenso esoterisch, langweilig, ideologisch, kontrovers und aufregend wie | |
alle anderen Wissenschaften auch. Denn es gelten wie überall die Regeln | |
guter wissenschaftlicher Praxis: Lege artis arbeiten, Resultate | |
dokumentieren, Ergebnisse konsequent selbst anzweifeln. | |
Was ist also die Zielscheibe der Angriffe? Sind es tatsächlich Gender | |
Studies? Oder ist es nicht vielmehr die theoretisch und methodisch | |
versierte Auseinandersetzung mit Geschlecht, Geschlechterordnungen und den | |
damit einhergehenden Ungleichheiten, die Analyse von heteronormativen | |
Zwängen und rigider Zweigeschlechtlichkeit eingeschlossen? | |
Klar ist, dass Gender Studies mit der Infragestellung des vermeintlich | |
Natürlichen die wissenschaftliche Komfortzone verlassen und zuweilen auch | |
Befunde liefern, die für so manchen politisch unbequem sind. Und genau hier | |
kommen die Feuilletonisten auf den Plan: Sie wehren sich mit dem Vorwurf | |
der Unwissenschaftlichkeit gegen eine empirische Forschung, die weiße, | |
männliche, heterosexuelle und ableistische Privilegien sichtbar macht. | |
5 May 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.sueddeutsche.de/wissen/gesellschaft-und-forschung-mann-und-frau-… | |
## AUTOREN | |
Katja Sabisch | |
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