# taz.de -- Pressefreiheit in der Türkei: Das Gespenst von Gezi | |
> Weil die großen Medien nicht frei berichten, sind die Online-Netzwerke | |
> zum Ort der Opposition geworden. Doch auch dort wird drangsaliert. | |
Bild: Über das türkische Fernsehen liefen keine Bilder von den Gezi-Protesten… | |
[1][Yazının Türkçesi için lütfen buraya tıklayın.] | |
Als wir im Sommer 2013 im Gezi-Park im Pfeffergasregen standen, ahnten | |
unsere Familien nicht, was dort geschah. CNN International sendete zwar | |
live vom Taksim-Platz, im türkischen Ableger CNN Türk dagegen lief eine | |
Doku über Pinguine. Der türkische Fernsehsender NTV übernahm die | |
internationalen Nachrichten der BBC nicht, weil sie über die Proteste in | |
der Türkei berichteten. | |
Aus den Mitschnitten der [2][Korruptionsaffäre], die Monate später an die | |
Öffentlichkeit gelangten, erfuhren wir, dass Erdoğan die Leitung des | |
Nachrichtensenders HaberTürk angerufen und alles – sogar die Untertitel – | |
zensieren lassen hatte. Die größten einheimischen Sender konnten keine | |
Nachrichten aus dem Inland bringen. | |
Die (Selbst-)Zensur der Mainstreammedien beschwerte zahlreichen | |
unabhängigen Nachrichtennetzwerke wie Ötekiler Postası und Dokuz8Haber mehr | |
Zulauf. Natürlich gab es bei diesen Experimenten mit laienhaftem | |
„Bürgerjournalismus“ auch Fehler. So wurden zum Beispiel nicht verifizierte | |
Meldungen verbreitet. Aber während in den Kleinstädten noch immer das | |
Fernsehen dominiert, entwickelte sich in den Großstädten ein virtueller | |
Aufstand parallel zu dem auf der Straße. | |
Mit zwei Schritten versuchte die AKP den Diskurs in den Netzwerken wieder | |
unter Kontrolle zu bekommen: Ende 2013 stellte sie Tausende junge | |
Erdoğan-Anhänger als PR-Agenten ein, Anfang 2014 wurde dem Internetgesetz | |
ein Paragraf zur Zensur bei Verletzung von Persönlichkeitsrechten | |
hinzugefügt. | |
## Landesweites Twitter-Verbot | |
Damit stellte die Regierung zum einen sicher, dass die regierungsnahen | |
Medien weiter ein positives Bild der AKP verbreiten und ließ zum anderen | |
die von der Opposition erhobenen Korruptionsvorwürfe gerichtlich | |
unterbinden. Vor den Kommunalwahlen im März 2014 kündigte Erdoğan ein | |
landesweites Twitter-Verbot an, setze es um und gewann die Wahl. | |
Wo sich die Mehrheit so brachial ausbreitet, werden Freiheiten von | |
Minderheiten beschnitten. Im Vorfeld der Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015, | |
die ersten mit Erdoğan als Staatspräsidenten, wuchs die Kontrolle auf der | |
Straße und in den sozialen Netzwerken: Im März trat das Gesetz für innere | |
Sicherheit in Kraft, das der Polizei mehr Kompetenzen bei Protesten | |
einräumt, im April die Verordnung, die der Regierung unter dem Stichwort | |
„nationale Sicherheit“ direkte Zensur erlaubt. Wir fanden uns wieder | |
zwischen Mainstreammedien, die die Nachrichtensperren eins zu eins | |
befolgten und der auf gesellschaftliche Proteste erpichten und | |
aufwiegelnden oppositionellen Presse. | |
Für redaktionelle Diskussionen ließ die Regierung keinen Raum: Vor den | |
Neuwahlen vom 1. November wurden im Rahmen des „Antiterrorkampfs“ erneut | |
Nachrichtenportale verboten und kurdische Journalisten wegen | |
„PKK-Propaganda“ verhaftet. Nach Angaben des Justizministeriums kamen 1.845 | |
Personen wegen Präsidentenbeleidigung vor Gericht, unter den zu Haftstrafen | |
Verurteilten waren auch Journalisten. Laut Twitter-Transparenzreport wurden | |
2015 auf Betreiben der Türkei 539 Accounts und 4.670 Tweets zensiert. | |
Das Oppositionsvakuum wird mittlerweile gefüllt von Manipulationen. | |
Accounts, die Follower kaufen, werden zu Instrumenten von | |
Regierungspropaganda, sie hetzen gegen andere Parteien und versuchen, | |
unabhängige Wahlbeobachter zu diffamieren. | |
## Lynchkampagnen gegen Journalisten | |
Sogenannte AKP-Trolle organisieren nach Art der Putin-Trolle Lynchkampagnen | |
gegen Journalisten. Twitterbots, automatisierte Programme, überschwemmen | |
die türkische Trendliste mit Slogans. Aus schlimmsten Kriegseinsätzen in | |
den kurdischen Provinzen teilen Soldaten rassistische Parolen, die sie an | |
Mauern geschrieben haben und Fotos von getöteten Guerillakämpfern. Mit | |
ihnen wollen sie junge Männer an die Front rufen. | |
Dennoch lassen sich die Stimmen der Opposition nicht völlig unterdrücken. | |
Unter dem Hashtag [3][#StopChildRapeInTurkey] twitterten kürzlich Nutzer | |
weltweit gegen Kindesmisshandlung an staatlichen Religionsschulen in der | |
Türkei. Die Regierung hatte versucht, den Fall zu verschleiern, und musste | |
ihn nach dem virtuellen Protest untersuchen lassen. Auch die Solidarität | |
der Zivilgesellschaft mit verhafteten AkademikerInnen blieb dank Twitter in | |
der öffentlichen Diskussion. | |
Die großen Medien in der Türkei können nicht frei berichten, weil die | |
meisten kommerziell mit der Regierung verflochten sind. | |
Social-Media-Unternehmen beugen sich der Zensur der Regierung, damit sie | |
nicht abgeschaltet werden. Doch wenn Sie diese Zeilen in Deutschland lesen | |
können, besteht noch Hoffnung für uns. | |
3 May 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Twitterde-vatanda-gazetecilii/!5298185 | |
[2] /Korruption-in-der-tuerkischen-Regierung/!5046822/ | |
[3] https://twitter.com/search?q=%23StopChildRapeInTurkey&src=typd | |
## AUTOREN | |
Efe Kerem Sözeri | |
## TAGS | |
Pressefreiheit in der Türkei | |
Schwerpunkt Pressefreiheit | |
Social Media | |
Gezi-Park | |
Twitter / X | |
Schwerpunkt Türkei | |
Pressefreiheit in der Türkei | |
taz.gazete | |
Pressefreiheit in der Türkei | |
Hürriyet | |
Pressefreiheit in der Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Pressefreiheit in der Türkei | |
Schwerpunkt Pressefreiheit | |
Schwerpunkt Pressefreiheit | |
Schwerpunkt Türkei | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Onlinemedien beim Putschversuch: Erdoğan mag Twitter doch | |
Akteure und Beobachter waren in der Nacht auf Online-Kanäle wie Twitter und | |
Facetime angewiesen – ironischerweise auch Präsident Erdoğan. | |
Pressefreiheit in der Türkei: Erkaufte Freundschaften | |
In den 80er Jahren wurde der türkische Medienmarkt privatisiert, die | |
Branche musste Profit machen. Das hatte auch Vorteile. | |
Twitter'de vatandaş gazeteciliği: Medyada alternatif arayışı | |
Vatandaş gazeteciliği denemesi, doğrulanmamış bilgileri de paylaşarak | |
hatalar yaptı. | |
Pressefreiheit in der Türkei: Der sanfte Druck eines Pistolenlaufs | |
Aus dem Südosten der Türkei zu berichten heißt, den eigenen Tod in Kauf zu | |
nehmen. Doch Öffentlichkeit kann Leben retten. | |
Pressefreiheit in der Türkei: Unfreiwillig auf der Ersatzbank | |
Der Autor war Leiter von Hürriyet Online, der reichweitenstärksten | |
Nachrichtenseite des Landes. Jetzt ist er arbeitslos. | |
Pressefreiheit in der Türkei: Zensur hat eine lange Tradition | |
Erdoğan versucht zu vermeiden, dass Journalisten seine Machenschaften | |
aufdecken. Dabei greift er zu rechtswidrigen Methoden. | |
1. Mai in der Türkei: Zurückhaltung und eine Autobombe | |
Die Sorge vor Terroranschlägen bringt Gewerkschaften dazu, Demonstrationen | |
abzusagen. Die Konfrontation um den Taksim-Platz bleibt aus. | |
Prokurdische TV-Station in der Türkei: Chefredakteur festgenommen | |
„Propaganda für eine Terrorvereinigung“: So lautet der Vorwurf gegen Hamza | |
Aktan. Begründet werden die Ermittlungen mit Tweets des Journalisten. | |
Pressefreiheit in der Türkei: „Sehr offen“ | |
Die Kanzlerin bricht eine Lanze für die Meinungsfreiheit in der Türkei: Das | |
passierte, während Merkel von Pressefreiheit sprach. | |
Pressefreiheit in der Türkei: Die Repression hat Tradition | |
Öffentliche Hetztiraden und ein fragwürdiges Akkreditierungsverfahren: Wie | |
die Regierung versucht, ausländische Journalisten loszuwerden. | |
Pressefreiheit in der Türkei: Fragen unerwünscht | |
Deniz Yücel, Ex-tazler und „Welt“-Korrespondent, steht in der Türkei unter | |
Beschuss. Er hatte Merkel zu der Lage der Menschenrechte im Land befragt. |