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# taz.de -- Debatte ums Kopftuch in Berlin: „Es wird mit zweierlei Maß gemes…
> Das Berliner Neutralitätsgesetz wirkt nicht neutral, sagt
> Rassismus-Expertin Yasemin Shooman. Ein Gespräch über Religionsfreiheit
> und Ausgrenzung.
Bild: Wer darf wann ein Kopftuch tragen? Vor dem Berliner Arbeitsgericht wurde …
taz: Frau Shooman, am 14. April 2016 hat das Arbeitsgericht Berlin die
Klage einer Lehrerin abgewiesen. Sie hatte eine Entschädigung gefordert, da
ihre Bewerbung als Lehrerin wegen ihres Kopftuchs abgelehnt wurde. Wie
beurteilen Sie die Abweisung der Klage?
Yasemin Shooman: Das ist eine verpasste Chance im Hinblick auf
Gleichstellung und Antidiskriminierung. Das Berliner Neutralitätsgesetz
heißt zwar schön, aber wir wissen aus der Diskriminierungsforschung, dass
Regeln, die für alle gelten, sich dennoch auf verschiedene Gruppen
unterschiedlich auswirken können – wir nennen das mittelbare
Diskriminierung. Solche Gesetze, die vermeintlich neutral sind, richten
sich an einem Religionsverständnis aus, das christlich, genauer gesagt
protestantisch geprägt ist.
Ein christlich geprägtes Religionsverständnis?
Religion wird als innerer Glaube, als eine Privatsache verstanden, der man
in den eigenen vier Wänden nachgeht. Für Religionen wie den Islam oder das
Judentum, in denen eine an Handlungen ausgerichtete Religionspraxis
wesentlich ist – wie das Einhalten von Speisegeboten, das ritualisierte
Gebet oder auch eine bestimmte Form der Kleidung –, kann ein solches
Religionsverständnis ausgrenzende Effekte haben.
Damit möchte die Stadt Berlin die Neutralität im öffentlichen Dienst
wahren.
Es ist nicht möglich, als kopftuchtragende Frau als Staatsanwältin tätig zu
sein, weil dies angeblich die Neutralität gefährdet. Aber als
AfD-Vorstandsmitglied darf man leitender Staatsanwalt in Berlin werden, wie
es aktuell der Fall ist. Da greift die Sorge um Neutralität offenbar nicht.
Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Menschen mit islamistischen
Überzeugungen sind genauso gefährlich wie Angehörige der
Mehrheitsgesellschaft, die mit rechtem Gedankengut in diese Berufe kommen,
ausgrenzendes Denken mitbringen und in Positionen geraten, wo sie Macht
ausüben können. Musliminnen hierbei mit mehr Misstrauen zu begegnen als
Christen oder Atheisten, ist nicht nur naiv, sondern im höchsten Maße
diskriminierend. Es hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass gerade
dieses Gesetz Frauen, die Kopftuch tragen, stark diskriminiert. Es ist auch
ganz klar in dem Kontext erlassen worden, kopftuchtragende Frauen aus
bestimmten Bereichen des öffentlichen Dienstes auszuschließen.
Woran machen Sie das fest?
Das Bundesverfassungsgericht hatte 2003 den Fall einer kopftuchtragenden
Referendarin verhandelt, die in den Schuldienst übernommen werden wollte.
Das Gericht kam zu der Feststellung, dass man einer Lehrerin das Tragen des
Kopftuchs nur dann untersagen könne, wenn hierfür eine besondere
gesetzliche Grundlage geschaffen würde. Daraufhin haben acht Bundesländer
entsprechende Verbotsregelungen verabschiedet, Berlin war eines davon. In
der Hälfte der Bundesländer wurde eine explizite Privilegierung
christlicher Symbole formuliert. Berlin hat das zwar nicht gemacht. Aber es
ist bislang kein Fall bekannt, dass Lehrerinnen oder Lehrer, die ein
sichtbares Kreuz um den Hals tragen, irgendwie vom Neutralitätsgesetz
tangiert wurden. Es wird in der Praxis toleriert, dass bestimmte religiöse
Symbole nach wie vor existent sind. Kopftuchtragende Frauen werden hingegen
ausgeschlossen. Für die ist das Gesetz.
Kann es nicht sein, dass alle LehrerInnen ohne Kreuz um den Hals zur Arbeit
kommen?
In der Begründung zum Neutralitätsgesetz gibt es eine
„Halskettenausnahmeregelung“. Nach dieser werden Symbole, die als
Schmuckstücke getragen werden, von der Regelung ausgenommen. Es ist total
unrealistisch anzunehmen, dass keine Lehrerin oder Lehrer in Berlin mehr
mit einem Kreuz um den Hals in der Schule erscheint. Denn wo kein Kläger,
da kein Richter. Aber wenn Lehrerinnen mit Mützen statt Kopftuch ihr Haar
bedecken, akzeptieren Schulen selbst das nicht.
Und das, obwohl es sich bei einer Mütze nicht um ein religiöses Symbol
handelt.
Genau. Das heißt, es ist auch ganz viel Projektion im Spiel. Es wäre
lohnenswerter, Kinder im Umgang mit Diversität, mit Vielfalt zu üben. Dazu
gehört, Menschen mit unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen in der
Rolle als Lehrkräfte zu erleben. Es sollte darauf ankommen, was die
Menschen denken und wie sie handeln und nicht, was ich auf sie projiziere.
Eine Missionierung oder Manipulation der Schüler, darf natürlich nicht
stattfinden – aber das sollte für alle gelten.
Fehlt die Vorbildfunktion für kopftuchtragende Mädchen, wenn Frauen mit der
gleichen Religionsausübung nicht in Schulen arbeiten dürfen?
Ich bin in den 80er und 90er Jahren in Berlin zur Schule gegangen und
selbstverständlich habe ich kopftuchtragende Frauen in der Schule arbeiten
sehen. Aber ausschließlich als Putzfrauen. Es wäre ein großer Fortschritt,
kopftuchtragende Frauen nicht nur in marginalisierten sozialen Rollen zu
begegnen, sondern eben auch in Berufsfeldern, in denen sie Verantwortung
tragen, sich selbst verwirklichen und selbstständig ihren Lebensunterhalt
verdienen können. Deswegen hätte man bei dieser Klage eine Chance gehabt,
etwas in Sachen Antidiskriminierung und Gleichstellung zu bewirken.
Allerdings nur für die Klägerin und andere Menschen im öffentlichen Dienst.
Diese Kopftuchverbote haben große Auswirkungen auf die Privatwirtschaft.
Arbeitgeber und Ausbilder berufen sich auf sie und fühlen sich im Recht.
Sie sagen sich „Wenn der Staat findet, dass mit diesen Frauen etwas nicht
stimmt, warum sollten wir die dann einstellen?“ Und das obwohl sie das
nicht dürfen, denn das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verbietet das. Es
gibt Studien, die zeigen, dass das Kopftuch zu einem großen Stigma geworden
ist. Akademikerinnen oder Frauen, die in Ausbildungsberufe gehen, haben
große Schwierigkeit, eine Stelle zu bekommen. Diese Auswirkungen können von
Menschen, die sagen, das Kopftuch stehe für Unterdrückung, nicht gewollt
sein. Wir können ja nicht ernsthaft glauben, es sei zum Wohle von Frauen,
wenn sie Berufsverboten unterliegen, wenn sie nicht die Möglichkeit haben,
sich frei zu entfalten und eben selbstständig ihr Geld zu verdienen und
finanziell unabhängig zu sein.
Die Religionsausübung von Musliminnen wird also ständig beurteilt und
beeinflusst. Ist das schon antimuslimischer Rassismus?
Auf jeden Fall hat es diesen Effekt und darüber sollten Menschen
nachdenken, die meinen, das Kopftuch stünde für Unterdrückung. Nehmen wir
mal an, es ist so: Eine Frau wird von ihrer Familie dazu gedrängt, das
Kopftuch zu tragen. Dann kommt also zu dieser Unterdrückung noch hinzu,
dass sie nicht arbeiten darf. Das ist doch widersinnig. Die Gründe für das
Tragen des Kopftuchs sind übrigens vielfältig. Die überwältigende Mehrheit
beruft sich auf die Religionsfreiheit, die im Grundgesetz verankert ist.
Das ist zu akzeptieren, unabhängig davon, was man persönlich vom Kopftuch
hält. Ein Kopftuchverbot auszusprechen emanzipiert keine Frau. Genau wie
man aus feministischer Sicht gegen Zwangsverschleierung sein muss, muss man
auch gegen Zwangsentschleierung sein.
In vielen östlichen Bundesländern, wo Pegida ihren Ursprung hat, gibt es
solche „Zwangsentschleierungsgesetze“ nicht. Haben Sie dafür eine
Erklärung?
Der muslimische Bevölkerungsanteil ist dort wahnsinnig gering. Es sind nur
dort die Gesetze erlassen worden, wo auch zu erwarten war, dass
kopftuchtragende Frauen in den öffentlichen Dienst aufgenommen werden
wollen. Wie eben in Berlin. Die Gesetze kommen zu Zeiten und an Orten, wo
die soziale Mobilität einsetzt. Wo Frauen, die Kopftuch tragen, sichtbar
werden in der Gesellschaft und als Akademikerinnen aufsteigen. Das sollte
uns bewusst sein und uns zum Nachdenken bringen. Es stört sich keiner an
dem Kopftuch der Putzfrau. Da interessiert es auch nicht, ob sie
unterdrückt ist oder nicht. Das Argument wird erst in dem Moment bemüht, wo
eine soziale Mobilität nach oben stattfindet. Da sehen wir eine
Abwehrhaltung gegen Diversität, gegenüber dem Anerkennen und Aushalten von
Anderssein und auch dem sozialen Aufstieg einer Minderheit.
28 Apr 2016
## AUTOREN
Marisa Janson
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Öffentlicher Dienst
Kopftuchverbot
Neutralitätsgesetz
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