# taz.de -- Demos am 1. Mai in Berlin: Irgendwie ist alles politisch | |
> Wenn 40.000 Menschen das Myfest feiern – ist das Politik? Und wenn beim | |
> DGB-Fest tierisch viel Bockwurst gegessen wird? Ein Blick auf die | |
> Berliner Gemengelage am 1. Mai. | |
Bild: Köfte meets Politik: Besucher auf dem Myfest | |
Der 1. Mai ist eine Theaterinszenierung | |
Von der ersten Pressemitteilung des Revolutionären-1.-Mai-Bündnisses bis zu | |
den letzten zusammengekehrten Glasscherben am Vormittag des nächsten Tages: | |
Die Geschehnisse rund um den 1. Mai folgen spätestens seit der Gründung des | |
Myfests 2003 einer Choreografie zwischen Party und Protest, die zwar keinen | |
Regisseur hat, in der sich aber trotzdem alle treu an ihre Rolle halten: | |
Die Polizei, die sich „exzellent vorbereitet“ sieht für diesen Tag. Die | |
Veranstalter der [1][18-Uhr-Demonstration], die auch in diesem Jahr wieder | |
„Für die soziale Revolution weltweit“ auf die Straße gehen wollen. Die | |
Presse, deren Hauptinteresse sich in einem Wort zusammenfassen lässt: | |
„Knallt’s?“ Die Neonazis, die es sich nicht nehmen lassen, ihre | |
Fünf-Mann-Kundgebungen abzuhalten, schon allein um dafür zu sorgen, dass | |
dieser Tag den Linken nicht allein gehört. Und die Zehntausende, die es an | |
diesem Tag nicht in der Wohnung hält, die zu Statisten in dem Spektakel | |
werden. | |
„Der 1. Mai ist das zentrale Angebot im Jahr, zu den jeweils aktuellen | |
politischen Themen zusammenzukommen“, sagt Simon Teune; Bewegungsforscher | |
an der TU Berlin. Dafür brauche es die festen Rituale, etwa bei der | |
18-Uhr-Demonstration: „Entgegen dem medial erzeugten Ruf als | |
Randale-Demonstration hat die linke Szene hier ein Angebot geschaffen, das | |
viel niedrigschwelliger ist als die meisten anderen ihrer Aktionen.“ Der | |
feste Termin und der immer ähnliche Auftaktort seien dabei ebenso wichtig | |
wie die inhaltliche Breite – man könnte auch sagen Unschärfe – der | |
Demonstration: „Die Botschaft ist: Egal ob du grundsätzlich mit dem System | |
oder konkret mit der Höhe deiner Miete unzufrieden bist – am 1. Mai abends | |
in Kreuzberg findet die Demo dafür statt“, sagt Teune. Mehr als 20.000 | |
Menschen folgten im letzten Jahr diesem Ruf – nur ein kleiner Teil von | |
ihnen, so vermutet Teune, habe die Aussicht auf Krawall auf die Demo | |
gelockt. | |
Gleichzeitig treibt diese Inszenierung seltsame Blüten: Die Polizei ist in | |
diesem Jahr wieder mit rund 6.500 BeamtInnen im Einsatz – obwohl es seit | |
2009 keine nennenswerten Ausschreitungen mehr gab und die Krawalle damals | |
bereits eine Ausnahme nach jahrelanger Ruhe darstellten. Dem Myfest wurde | |
in diesem Jahr fast der eigene Erfolg zum Verhängnis: Weil es für immer | |
mehr Menschen mittlerweile zum Ritual gehört, sich an Köfte- und | |
Bierständen vorbei durch Kreuzberg zu schieben, ist das Fest, das den Tag | |
doch eigentlich befrieden soll, selbst zum Sicherheitsrisiko geworden, für | |
das monatelang niemand die Verantwortung übernehmen wollte. | |
Die 18-Uhr-Demo wiederum kann sich einerseits über immer mehr Teilnehmende | |
freuen, sieht sich aber gleichzeitig szeneintern ausgerechnet dem Vorwurf | |
ausgesetzt, den ihre Veranstalter gern allen anderen machen: „Unpolitisch“ | |
sei die Demonstration, ein „wandelndes Myfest“, auf dem nur noch konsumiert | |
werde, ein „Touristenkarneval“, angeführt von „kleinbürgerlichen Kräft… | |
Wer den 1. Mai in Berlin kennt, weiß: Auch diese Diskussion über die | |
Inhaltsleere der Proteste, über die notwendige „Repolitisierung“ gehört | |
längst zum Ritual. | |
Der 1. Mai ist ein Familienfest | |
Wenn alles zum Ritual erstarrt, warum bleibt dieser Tag dann politisch so | |
attraktiv? Das kann man gut Doro Zinke fragen, Vorsitzende des DGB | |
Berlin-Brandenburg, der auch in diesem Jahr wieder mit mehreren tausend | |
TeilnehmerInnen bei [2][seiner zentralen Demo] am Morgen des 1. Mai rechnen | |
kann. „Es geht an diesem Tag ganz einfach darum, dass wir unsere eigenen | |
Erfolge auch einmal feiern“, sagt Zinke. Wo Protest das Tagesgeschäft ist, | |
kann eine Demonstration auch diesen Zweck erfüllen: sich der gewonnen | |
Auseinandersetzungen und erkämpften Errungenschaften vergewissern. Und, | |
nicht zuletzt: „Diese Veranstaltung ist für viele von uns so wichtig, weil | |
man sich dort trifft, wiedersieht, weil man dort Gemeinschaft erleben | |
kann“, sagt Zinke. | |
Gar nicht so weit weg davon ist Soner Ipekcioglu, einer der Veranstalter | |
des Myfests. Dabei ist Ipekcioglu sauer, gerade auch auf die DGB-Demo | |
beziehungsweise die Berichterstattung darüber: „Es wird immer so getan, als | |
wäre Politik nur dann, wenn Menschen auf der Straße laufen mit einem | |
Ballon, wo DGB draufsteht“, sagt er. | |
Die Myfest-Crew betont in diesem Jahr bei jeder Gelegenheit, auch bei ihrem | |
Fest handele es sich um eine politische Veranstaltung. Um das zu | |
untermauern, können sie aufzählen, wie viele politische Redebeiträge | |
gehalten werden, selbst „ein Antifa“, der auf einer der Bühnen moderiere, | |
wird als Argument ins Feld geführt wie eine Actionfigur im Kampf um | |
Authentizität. Das Hauptargument aber ist ein anderes: „Wenn Menschen am 1. | |
Mai friedlich zusammen ein großes Fest feiern und dabei zu einer | |
Gemeinschaft werden, dann ist das Politik im besten Sinne“, sagt | |
Ipekcioglu. | |
Das Zusammenkommen an sich zum politischen Akt erheben – ein streitbares | |
Argument. Die Wichtigkeit des kollektiven Erlebnisses an diesem Tag betonen | |
aber auch andere: „Es gibt so viel, was mich am 1. Mai mittlerweile nervt, | |
und trotzdem ist es ein gutes Gefühl, dort so viele alte Bekannte wieder zu | |
treffen, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl zu erleben“, sagt einer, der den | |
linksradikalen 1. Mai in Berlin seit seinen Anfängen Ende der 80er Jahre | |
kennt. | |
Der 1. Mai ist eine Kampfarena | |
Die politische Kraft des Rituals, der Gemeinschaft – schön und gut, aber | |
geht es irgendwo wirklich noch um konkrete politische Inhalte? Am 1. Mai | |
selbst sucht man die tatsächlich eher vergebens – gerade, weil der Tag | |
selbst so mit Bedeutung, Tradition und Symbolik aufgeladen ist, treten | |
Inhalte in den Hintergrund. Versuche, das zu ändern, gab es immer wieder, | |
etwa mit den Mayday-Paraden, die ab 2006 das Thema Prekarität in den | |
Mittelpunkt stellten – und drei Jahre später wieder eingestellt wurden, | |
auch aus Angst, selbst zum Ritual zu werden. | |
Interessant wird da ein Blick auf den Vorabend: Die [3][Antikapitalistische | |
Walpurgisnachtdemo] heißt schon seit dem letzten Jahr gar nicht mehr so, | |
auch sonst hat sich hier in den letzten Jahren einiges getan. Seit 2012 | |
organisiert das Bündnis „Hände weg vom Wedding“ die Demonstration und hat | |
es dabei tatsächlich geschafft, aus den einst völlig sinnentleerten | |
Scharmützeln in der Walpurgisnacht eine Veranstaltung mit konkreten | |
politischen Inhalten zu machen: „Wir kämpfen gegen hohe Mieten, gegen eine | |
unsoziale Stadtpolitik, die die Armen gegeneinander ausspielt, und für | |
einen solidarischen Kiez“, sagt der Bündnissprecher Kim Schleier. | |
2012 hat sich das Bündnis für den Wedding als Demonstrationsort | |
entschieden. „Wir haben gesehen, dass hier die gleiche Aufwertung beginnt, | |
die in anderen Teilen der Stadt schon abgeschlossen ist“, sagt Schleier. | |
„Und wir wollten, dass die Walpurgisnacht mehr ist als ein Ereignis für | |
eine sich selbst feiernde, vom Rest der Gesellschaft abgeschlossene linke | |
Szene.“ | |
Also gingen sie im Kiez Klinken putzen. Graffiti-Workshops auf dem | |
Leopoldplatz, offene Kneipenabende, Sozialberatungen: „Nach und nach haben | |
wir uns so eine Verankerung und ein Netzwerk aufgebaut, das überhaupt erst | |
die Grundlage für die Demo bildet“, sagt Martin Steinburg, der ebenfalls | |
für die Gruppe spricht. Denn am Anfang schlug ihnen im Wedding noch eine | |
feindselige Stimmung entgegen: Was wollen die linken Chaoten hier, war die | |
vorherrschende Meinung. | |
Dass sich das verändert hat, lässt sich auf der Demonstration beobachten, | |
deren TeilnehmerInnen durchmischter sind als sonst bei linksradikalen | |
Veranstaltungen. „Die Demonstration soll ruhig eine identitätsstiftende | |
Veranstaltung sein – aber eben nicht für die linksradikale Szene, sondern | |
für die Nachbarschaft, für alle, die gegen Ungleichheit sind“, sagt | |
Steinburg. Dieses Jahr beginnt die Demonstration schon um 16.30 Uhr – ein | |
weiteres Zeichen für diesen Paradigmenwechsel. | |
Dass es paradoxerweise an kaum einem Tag im Jahr so schwer ist, | |
Aufmerksamkeit für politische Anliegen zu bekommen, wie rund um den 1. Mai, | |
haben sie dabei selbst erlebt: „Am Anfang war das Interesse der Presse | |
riesig – als sie gemerkt haben, dass es bei uns nicht knallen wird, ist das | |
rapide zurückgegangen“, sagt Schleier. | |
Warum dann nicht auf einen anderen Tag ausweichen? Kurz zögert Steinburg. | |
„Als antikapitalistisch denkende Menschen diesen Tag ganz aufzugeben – das | |
käme für uns bei allen Veränderungen, die wir für nötig halten, auch nicht | |
in Frage“, sagt er dann. Das Ringen um die Bedeutung des 1. Mai ist noch | |
lange nicht beendet. | |
30 Apr 2016 | |
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## AUTOREN | |
Malene Gürgen | |
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