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# taz.de -- Web-App genius.it: Das gesamte Internet vollschreiben
> Mit der Web-App Genius.it werden Kommentare aus dem moderierten Bereich
> geholt – und finden stattdessen mitten im Text statt. Segen oder Fluch?
Bild: Es gibt so viel zu sagen. Und jetzt endlich auch den passenden Ort dafür
Manche mögen ihre Wurst ja mit wenig Senf oder sogar ganz ohne. Andere
nehmen extra viel. Das Internet könnte demnächst im Senf ertrinken. Denn
dank der Web-App von [1][genius.com] kann inzwischen jeder auf sämtlichen
Internetseiten seine Meinung hinterlassen. Und zwar nicht in einem
moderierten Kommentarbereich, sondern mitten im Text. Das weiß bloß kaum
jemand. Dabei ist es ganz einfach: Man muss nur eine Passage markieren und
seinen Senf dazugeben. Anschließend kann ein anderer Benutzer des Tools auf
die gelb markierte Textstelle klicken und die Anmerkung lesen. [2][“Web
Annotator“] heißt das Werkzeug, das dies ermöglicht.
Die Applikation ist eine Mischung aus digitalem Textmarker und
wissenschaftlicher Fußnote. Im Kommentarfeld können Autoren den Kontext
einer Aussage beschreiben, weitere Beispiele für ein im Text beschriebenes
Phänomen benennen, einen komplexen Begriff erklären – oder auch meckern und
Geschriebenes widerlegen. Zur Illustration lassen sich Links platzieren,
Bilder, kleine Animationen (GIFs) und Videos einbetten. Zu sehen sind sie
allerdings nur für diejenigen, die das Tool ebenfalls heruntergeladen haben
oder, noch simpler, „genius.it/“ vor die URL-Adresse der Website tippen.
Das sind bislang nicht allzu viele. Noch nicht.
Egal was die „Annotator“ hinterlegen, ihre Anmerkungen legen sich wie eine
Folie über die Website. Die UrheberInnen der Internetseite oder die
AutorInnen eines Textes haben keinen Einfluss darauf. Unliebsame
Bekanntschaft mit dem „Web Annotator“ macht kürzlich die amerikanische
Bloggerin Ella Dawson. Sie schreibt einen sehr persönlichen Blog über
Missbrauchserfahrungen und Slut-Shaming aufgrund von
Geschlechtskrankheiten. Nachdem sie wegen eines Textes über Stigmatisierung
von Menschen mit Genitalherpes auf Twitter angegriffen wurde, blockierte
sie die Nutzer. Insbesondere eine gesperrte Person hatte anschließend
Freude daran, den Blog von Dawson via genius.it mit Anmerkungen,
Annotations genannt, zu tapezieren. Dawson fand das nicht so gut. Dagegen
tun konnte sie allerdings wenig.
In den USA hat sich darüber eine Debatte entfaltet: Selbst die
demokratische Kongressabgeordnete Katherine Clark forderte genius.com auf,
Stellung zu beziehen und Hasskommentare zu unterbinden, möglicherweise
mittels eines „Melden“-Buttons. Immerhin: Kurz darauf implementierte Genius
eine „Report abuse“-Funktion.
Außerdem versicherte Tom Lehman, Chef und Gründer von Genius, dass „jeder
einzelne Kommentar von Mitarbeitern gelesen und geprüft wird“.
Missbräuchliche Inhalte würden gelöscht und Nutzer gesperrt. Bislang würden
Ausfälle von der Community gemeldet, und den Report-Abuse-Button gebe es ja
nun auch. Eine taz-Nachfrage, ob es künftig für Website-Inhaber die
Möglichkeit gebe, Annotations auf ihrer Website auszuschalten, blieb bis
Redaktionsschluss unbeantwortet.
Dawsons Blog bleibt unterdessen kommentiert. Die Bloggerin muss wohl
vorerst damit leben. Immerhin [3][gibt es für Wordpress inzwischen ein
Plugin], mit dessen Hilfe man genius.com aussperren kann.
## Die Community genießt einen guten Ruf
Klar ist bei allen Bedenken: Das Tool muss nicht unbedingt schlecht sein.
Die Genius-Community genießt, verglichen mit den Troll-Mobs von 4Chan oder
Reddit, einen guten Ruf, weil sie sich in der Regel an die Netiquette hält.
Außerhalb der Gemeinschaft weckt der „Web Annotator“ ebenfalls Interesse:
Die Autorin Natasha Vargas-Cooper von der kulturkritischen Zeitschrift The
Baffler nutzte das Tool, [4][um Anmerkungen über ihren Text zu
Polizeigewalt zu legen], die mit weiterführenden Informationen gespickt
sind und um kritische Stellen näher zu erläutern. Der Text insgesamt
profitiert davon.
Oder Matthew Pulver, Journalist vom Internet-Magazin Salon.com, der seine
in einem Kommentar herausgelassene Wut über Donald Trump und das weiße
Amerika [5][nach einiger Reflexion noch mal differenziert und selbst
kritisiert]. Aber in diesen Fällen sind es eben auch die Autoren selbst,
die das Tool verwenden. Was aber ist mit Kommentaren von anderen Usern, wie
bei Dawsons Blog?
Der Fokus von genius.com liegt auf Journalismus. „Public powered
journalists“ sollen vom öffentlichen Diskurs profitieren, so die Idee von
„News Genius“.
## Ursprünglich ein Lyricsportal für HipHop
Dass es funktionieren kann, crowdbasiert Wissen anzuhäufen, zeigt nicht nur
Wikipedia, sondern auch genius.com schon länger. Ursprünglich war es ein
Lyricsportal für HipHop. Wer die amerikanische HBO-Serie „The Wire“ im
Original sah, weiß, wie schwerverständlich amerikanischer Slang schon in
gesprochenen Dialogen sein kann. Ganz zu schweigen von Rap-Lyrics. Bei
Genius sind kommentierte Textpassagen durch Interpretationen und
Erklärungen ergänzt. Das funktioniert ganz hervorragend.
Selbst Kendrick Lamar und Eminem kommentieren dort ihre Texte. Sie geben so
Einsicht in ihr Werk an ihre Fans weiter, und die können dann auch ihren
Senf dazugeben. Manche mögen viel Senf ganz gern.
31 Mar 2016
## LINKS
[1] http://genius.com/
[2] http://genius.com/web-annotator
[3] http://www.vijithassar.com/2641/how-to-block-genius-annotations
[4] http://genius.it/thebaffler.com/blog/bottle-orange-juice-allowed-cops-kill-…
[5] http://genius.it/www.salon.com/2016/01/20/donald_trump_god_of_rage_the_decl…
## AUTOREN
Gareth Joswig
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