# taz.de -- Freispruch für Vojislav Šešelj: Desaster für die Anklage | |
> Für die diplomatischen Beziehungen in der Balkanregion dürfte die | |
> Nachricht „sehr negative“ Folgen haben, glauben Experten. | |
Bild: Zynisch sprach Šešelj nach der Urteilsverkündung von „zwei ehrenhaft… | |
„Vojislav Šešelj ist ein freier Mann“, erklärte am Donnerstag Jean-Claude | |
Antonetti, der Vorsitzende Richter des UNO-Kriegsverbrechertribunals für | |
das ehemalige Jugoslawien. Einen Freispruch hatte niemand erwartet – weder | |
in Serbien noch in Kroatien und Bosnien, wohin Šešelj, nach eigenem | |
Geständnis Freischärler aus Serbien in den 1990er Jahren in den Krieg | |
geschickt hatte. | |
Die Anklage hatte für Šešelj 28 Jahre Haft wegen Kriegsverbrechen und | |
Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Kroaten und Muslimen gefordert. So | |
soll er für Gräueltaten wie Mord, Folter und Vertreibung berüchtigte | |
paramilitärische Verbände aufgestellt und durch Hassreden zu einer | |
Eskalation ethnischer Gewalt beigetragen haben. In den meisten der neun | |
Anklagepunkten fiel der Freispruch des Richterrates nicht einstimmig aus. | |
Richter Antonetti hatte auf Versäumnisse der Anklage hingewiesen. | |
Als sich Šešelj Anfang 2003 freiwillig dem Tribunal stellte, erklärte der | |
Anführer der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei (SRS): „Ich | |
werde das Tribunal besiegen.“ Das hat er anscheinend getan. | |
Während des gesamten Verfahrens zeigte sich Šešelj trotzig wie kein anderer | |
Häftling: So wiederholte er, dass er das Tribunal nicht anerkenne, sprach | |
von einer „antiserbischen, amerikanischen Institution“, verteidigte sich | |
selbst, wurde drei Mal wegen Gerichtsbeleidigung schuldig gesprochen, | |
fluchte und schimpfte. | |
## Zynische Reaktion | |
Der wegen Krebs vorübergehend freigelassene Šešelj lehnte es Anfang März | |
ab, der Urteilsverkündung in Den Haag beizuwohnen – und das Tribunal gab | |
nach, anstatt von Serbien die Ausweisung des Nationalistenführers zu | |
fordern. Schon dieser umstrittene Präzedenzfall sorgte für heftige | |
Reaktionen in Zagreb und Sarajevo, nach dem Freispruch sind nun weitere | |
Ausbrüche der Empörung zu erwarten. Analysten in Belgrad sprechen von „sehr | |
negativen“ Folgen für die ohnehin schon brüchigen bilateralen Beziehungen | |
in der Region. | |
Nach dem Urteilsspruch trommelte die SRS eine Pressekonferenz zusammen. | |
„Ihr seid so viele, dass wir Eintrittsgeld kassieren sollten“, sagte Šeše… | |
gut gelaunt vor Journalisten. Zynisch sprach er von „zwei ehrenhaften | |
Richtern“, die ihn freigesprochen hätten. | |
Alle anderen vor dem Tribunal wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit | |
verurteilten Serben nannte er seine Freunde, die „unschuldig“ Opfer eines | |
„politischen Prozesses“ geworden seien. Abermals bezeichnete er das | |
Tribunal als ein „antiserbisches Gericht und Instrument der neuen | |
Weltordnung“. | |
„Ich wusste gleich nach Prozessende, dass ich gesiegt habe“, sagte Šešelj | |
frohlockend. „Vielleicht hätte ich doch ein Paar Jährchen Haft bekommen | |
sollen, damit die serbischen Feinde außerhalb Serbiens nicht so sehr | |
wüten“, fügte er hinzu. Was die großserbische Idee angeht, war und ist sich | |
Šešelj treu. | |
## Serbiens Spitze kann aufatmen | |
Die politische Spitze Serbiens kann nach dem Freispruch aufatmen. In | |
Serbien finden am 24. April vorgezogene Parlamentswahlen statt, und obwohl | |
nun die SRS sicher ins Parlament einzieht und Šešelj Abgeordneter wird, | |
wären die Folgen einer Verurteilung Šešeljs viel größer. | |
Er war der politische Ziehvater des heutigen serbischen Ministerpräsidenten | |
Aleksandar Vučić und Staatspräsidenten Tomislav Nikolić. Die beiden waren | |
während der kriegerischen 1990er Jahre seine rechte und linke Hand. Der | |
Freispruch für Šešelj bedeutet auch für sie eine juristische | |
Rehabilitierung. Vor rund sieben Jahren trennten sie sich von Šešelj und | |
seinem Nationalismus. Sie gründeten die proeuropäische Serbische | |
Fortschrittspartei und regieren seit 2012 mit absoluter Mehrheit. | |
Selbst eine relativ starke SRS kann Premier Vučić nicht schaden. Ganz im | |
Gegenteil. In der Außenpolitik benutzte schon Serbiens Expräsident Slobodan | |
Milošević Šešelj als Schreckgespenst nach dem Motto: Schaut, wenn ihr mich | |
nicht haben wollt, kommt dieser verrückte Nationalist an die Macht. Genau | |
diese Rolle könnte Šešelj wieder spielen, wenn der Westen etwa | |
demokratische Zustände in Serbien einfordert. | |
31 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Andrej Ivanji | |
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