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# taz.de -- Flüchtlinge in Sachsen: „Zeisler Achmed“ soll bleiben
> Sachsen ist nicht nur Clausnitz. Ganz in der Nähe hat sich eine Gemeinde
> erfolgreich dafür eingesetzt, dass Geflüchtete dort wohnen dürfen.
Bild: Deutsche und Geflüchtete, das geht in Sachsen auch harmonisch: wie hier …
Königshain-Wiederau taz | Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer
unter den mehr als 100 Flüchtlingshelfern im mittelsächsischen Wiederau. Am
Abend des 23. Februar erfuhren sie, dass die 60 jungen Männer aus
Afghanistan, dem Iran, Irak und aus Syrien am übernächsten Tag aus ihrer
Gemeinde in die kaum ausgelastete Erstaufnahme nach Rossau gebracht werden
sollten. Wegen der Kosten, wie Landrat Matthias Damm (CDU) den Umzug
begründete, und weil die beiden Zelte in Wiederau eigentlich nur als
Notunterkunft gelten.
Dabei waren die Flüchtlinge dabei, sich in der Gemeinde einzuleben, die
Helfer hatten die Unterkunft so wohnlich wie möglich gestaltet. „Ein
abrupter Abtransport wäre ein menschliches Desaster gewesen“, sagt
Bürgermeister Johannes Voigt (CDU).
Erst im Februar war der Landkreis Mittelsachsen durch Fremdenhass
aufgefallen, als in Clausnitz ein wütender Mob vor einem Bus mit
Flüchtlingen tobte. In diesem Landkreis liegt auch die
2.500-Seelen-Gemeinde Königshain-Wiederau. Auch Wiederau macht Schlagzeilen
– aber ganz anderer Art: Wiederau kämpft für Flüchtlinge.
In nur zwei Monaten nach Ankunft der 60 jungen Männer war nicht nur die
Zahl der Helfer ins Dreistellige gewachsen. Zwischen Alteingesessenen und
Neuankömmlingen hatte sich auch eine enge Bindung entwickelt. Alle
Flüchtlinge hatten einen Paten aus der Gemeinde bekommen. Die Helfer reden
die Schützlinge heute schon mit den Familiennamen ihrer jeweiligen Paten
an, vom „Zeisler Achmed“ ist etwa die Rede. Mit öffentlichen Kochabenden
oder Hilfe beim Aufbau einer Geflügelausstellung trugen die Flüchtlinge das
Ihre zur Gemeinschaft bei.
## Unterkunft in einer Hotelsuite
Deswegen beschlossen die Flüchtlingshelfer, sich gegen die Verlegungspläne
zu wehren: Sie wollten ihre Flüchtlinge in Sicherheit bringen. Über die
Zwischenstation eines Kirchenasyls verbrachten die Männer das kommende
Wochenende bei ihren Paten. Zwei Flüchtlinge fanden spontan sogar
Unterkunft in einer Hotelsuite im nahen Markersbach.
Ein „Brandbrief“ der Helfergruppe stimmte auch Landrat und Innenministerium
nachdenklich. Zur Zusammenkunft mit dem Landrat und seinem Asylbeauftragten
am nächsten Tag kamen Flüchtlinge und Helfer gemeinsam und baten darum,
nicht getrennt zu werden. Der in Windeseile organisierte Protest hatte
Erfolg: Das Landratsamt gab schließlich nach.
Das Engagement von so vielen Bewohnern für ihre neuen Mitbürger war im
Oktober 2015 noch nicht absehbar: Als die Kommune laut Verteilungsschlüssel
insgesamt 48 Flüchtlinge aufnehmen sollte, brach zunächst Panik aus:
Alleinstehende junge Männer, nur hundert Meter neben der Grundschule
einquartiert – schlimmer konnte es nicht kommen. Die Bürgerinitiative „Nein
zum Flüchtlingslager“ sammelte 360 Unterschriften, die Turnhalle erlebte
eine turbulente Bürgerversammlung, im Internet tauchten bis heute nicht
verstummte Schmähungen und Anschlagsdrohungen auf.
Doch Bürgermeister Voigt, ein aktiver evangelischer Christ, erließ einen
anfangs kaum beachteten Aufruf zur Hilfe. Als zwei Tage vor Heiligabend die
60 Flüchtlinge tatsächlich eintrafen, fanden sie eine von zahlreichen
Helfern halbwegs wohnlich hergerichtete Unterkunft mit Schlafkabinen und
einem Aufenthaltszelt vor. Weil im Internet gedroht worden war, zehn
Kanister Benzin würden zu Silvester Verwendung im Flüchtlingscamp finden,
feierten Helfer und Neuankömmlinge gemeinsam den Jahreswechsel.
## Unendlich denkbar
„Wir haben sie ins Herz geschlossen“, sagt Bürgermeister Voigt. Jeden Abend
schaut er im Camp vorbei. Ali, mit 52 Jahren der Älteste unter den
Flüchtlingen, geht bei ihm ein und aus. Er ist ein Opfer des syrischen
Bürgerkriegs und war einst Firmeninhaber und Hausbesitzer.
Die meisten aber sind noch sehr jung, unendlich dankbar, lernen wie
besessen Deutsch und begegnen Gästen mit ausgesprochener Höflichkeit.
Besuch bekommt sofort Tee und etwas zu knabbern. „Die sind sauberer und
anständiger als viele Deutsche“, heißt es in der Helferrunde. Kein einziges
Vorkommnis gab den ersten Befürchtungen recht.
Die einzige Linken-Gemeinderätin, Helga Steinert, legt Wert auf die
Feststellung, dass der Helferkreis völlig gemischt sei in einer Gemeinde,
die eher liberal-konservativ wählt. Menschlichkeit, Empathie, auch ein
bisschen Neugier haben sie zusammengeführt. Und das in einer Gegend, in der
vor wenigen Jahren der paramilitärische braune „Sturm 34“ sein Unwesen
trieb.
Stillschweigend ist so auch bei den „besorgten Bürgern“ Akzeptanz
gewachsen. Die Protestdemo am Tag nach dem eigentlich geplanten Abtransport
lief weitgehend ins Leere. Im Internet allerdings halten die Attacken gegen
die Zeltunterkunft und ihre Bewohner an.
„Die hatten Glück mit uns – und wir mit ihnen“, lautet eine häufig
gebrauchte Formel in Wiederau. In diesen Tagen soll die Zeltunterkunft nun
doch geordnet aufgelöst werden. Die Flüchtlinge erhielten nun nach und nach
Asylstatus, heißt es. Auch wenn einige die Gemeinde verlassen könnten –
ihre Verbindung zu den Flüchtlingen wollen die Helfer möglichst pflegen.
1 Apr 2016
## AUTOREN
Michael Bartsch
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Sachsen
Flüchtlinge
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Fremdenfeindlichkeit
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