# taz.de -- Integration in Sachsen: Verloren im Behördendschungel | |
> In Grimma springen Freiwillige ein, um die Defizite der Behörden | |
> auszugleichen. Ohne sie wäre die Zuwanderung nicht zu bewältigen. | |
Bild: „Um die Kinder muss man sich gut kümmern, sonst gehen sie unter“, sa… | |
GRIMMA taz | Bärbel Schäfer sitzt an dem großen Holztisch in ihrer Küche, | |
sie beugt sich über ein weißes Tuch und zieht an einer Nadel goldenes Garn | |
durch den Stoff. Ein neues Gebetstuch für die Kirche. Es ist gerade neun | |
Uhr am Morgen, neben ihr steht eine Tasse Espresso. Dann plötzlich klopft | |
es. Durch die Glastür ihres Wintergartens ist eine junge Frau zu sehen, | |
kurze Haare, brauner Rock. Sie ist eine Geflüchtete, woher, will sie nicht | |
sagen. Sie ist lieber vorsichtig. Sie hat schon genug Probleme mit dem | |
Ausländeramt. Vor Angst hat sie die ganze Nacht nicht schlafen können. | |
Rund 650 Geflüchtete sind in Grimma untergebracht. Sie leben in einer | |
Stadt, in der kaum jemand ihre Sprachen spricht, erhalten Schreiben von den | |
Ämtern, die sie nicht verstehen. Flüchtlingskinder zum Beispiel brauchen | |
eine Gesundheitsbescheinigung vom Arzt, um in den Kindergarten gehen zu | |
können. Die müssen die Eltern aber zunächst beim Ausländeramt beantragen; | |
sich dafür einen halben Tag anstellen vorm Büro. | |
Vom Hausarzt werden sie dann weiter zum Facharzt geschickt, der dann oft | |
die ausländischen Impfbescheinigungen nicht anerkennt – wie sollen sich | |
Menschen, die gerade erst in Deutschland angekommen sind, in diesem | |
Wirrwarr der Zuständigkeiten zurechtfinden? | |
Ohne freiwillige Helfer wie Bärbel Schäfer wären viele von ihnen | |
aufgeschmissen. 20 Freiwillige gibt es in Grimma, knapp 30.000 Einwohner, | |
Mittelsachsen. Sie sind der Grund, warum Zuwanderung in diesem Maß vor Ort | |
in den Kommunen überhaupt zu bewältigen ist. Das Landratsamt selbst sieht | |
sich nicht in der Lage, Schreiben zu übersetzen, Flüchtlinge ins soziale | |
Leben zu integrieren oder Asylentscheide zu erklären. | |
## „Ich bin kein Gutmensch“ | |
Bärbel Schäfer wohnt mit ihrem Mann in einem hellen, modern eingerichteten | |
Haus nahe dem Grimmaer Marktplatz. Das Ehepaar aus Bayern ist vor 20 Jahren | |
nach Grimma gezogen. Schäfer, eine Frau von großer Statur, 69 Jahre alt, | |
ist eigentlich in Rente. Aber als Flüchtlingshelferin ist sie dieser Tage | |
ständig im Einsatz; manchmal beginnt ihr Arbeitstag um neun Uhr morgens und | |
geht bis acht Uhr abends. | |
Die 40 Euro im Monat, die ihr dafür zustünden, nimmt sie nicht an. Sie will | |
unabhängig sein. „Ich bin kein Gutmensch“, sagt sie. „Ich kann einschät… | |
wer Hilfe braucht und wer mich ausnutzt.“ Sie hilft gerne, aber das ist | |
nicht der wichtigste Grund für ihr Engagement, Schäfer tut, was sie für | |
notwendig hält: „Die Leute müssen integriert werden“, sagt sie, „sonst … | |
das schief.“ | |
Die Freiwilligen organisieren Sprachunterricht, vermitteln Plätze in | |
Vereinen, Kindergärten und Schulen, Arzttermine, besorgen Möbel und | |
Kleidung. Vor allem aber sind sie unbezahlte Dolmetscher und Mittler | |
zwischen Flüchtlingen und Ämtern. „Die größten Hürden sind die Behörden… | |
ihren Vorschriften und Gesetzen“, meint Schäfer. | |
## „Organisatorisches Chaos“ | |
Das Landratsamt Kreis Leipzig fühlt sich für die umständlichen Abläufe aber | |
nicht verantwortlich. Dass die Behörde die Flüchtlinge nicht besser | |
unterstützen kann, habe mit dem „organisatorischen Chaos von Bund und Land | |
zu tun“, sagt Dr. Thomas Vogt, Sozialdezernent vom Landratsamt Kreis | |
Leipzig. Er ist sich der Anspannung zwischen dem Amt und Flüchtlingshelfern | |
bewusst. | |
„Von gut laufen kann man nicht sprechen“, meint Vogt im Hinblick auf die | |
Zusammenarbeit. Jahrelang habe man versäumt, qualifizierte Sozialarbeiter | |
einzustellen. Aus dem Stand heraus müsse nun die Zahl der Mitarbeiter | |
verdoppelt werden. Das könne das Landratsamt nicht stemmen. | |
Was das Amt versäumt, müssen nun die Freiwilligen leisten. Schäfer ärgert | |
sich. „Es ist scheinheilig vom Landratsamt, zu behaupten, sie wollen | |
Integrationsarbeit leisten. Ich glaube, die wissen gar nicht, was da | |
dranhängt!“ Sie hat sich an den Computer in ihrem Arbeitszimmer gesetzt, | |
sie tippt mit steifen Fingern. Neben ihr sitzt die junge Migrantin, den | |
Kopf auf der Handfläche abgestützt. Sie braucht einen Pass für ihre | |
Tochter. | |
## Papiere, Papiere, noch mehr Papiere | |
Wie oft sie deswegen schon beim Ausländeramt gewesen ist? Die Frau lacht | |
hysterisch. Immer wenn sie denkt, nun müsse sie alles beisammen haben, | |
fordern die Sachbearbeiter noch mehr Papiere. Nun hat sie ihren eigenen | |
Pass abgeben müssen. Warum, hat sie nicht verstanden. Vielleicht als | |
Druckmittel, überlegt sie. Die junge Frau hat ihr Vertrauen in das | |
Ausländeramt längst verloren. „Die hören mir eh nicht zu.“, sagt sie. �… | |
bin müde im Kopf.“ | |
Als die junge Frau gegangen ist, macht sich Schäfer auf den Weg. Der Kies | |
knirscht unter ihren Turnschuhen, als sie über die Einfahrt hinüber zum | |
ihrem VW geht. Ruckartig fährt sie an. Am Fenster ziehen bunte Häuser im | |
Barockbaustil vorbei. Durch gepflasterte Gassen fährt sie zu einem | |
Betonhaus an der Hauptstraße. Hier wohnt Familie Jawed aus Afghanistan. Das | |
Ehepaar ist mit den vier Kindern erst vor wenigen Wochen aus dem | |
Flüchtlingsheim hergezogen. Die Flüchtlinge haben Angst, erkannt zu werden. | |
In ihrer Heimat wurden sie von Taliban bedroht. Daher sind ihre Namen | |
geändert. | |
Schäfer bringt die drei Söhne zum Fußballtraining. Auf dem Weg zum Auto | |
erzählen die Jungen von der Schule: „Super!“ Schäfer lächelt. So viel | |
Begeisterung für die Schule hat sie selten erlebt. Die Jungen werfen ihre | |
Sportbeutel in den Kofferraum und klettern auf die Rückbank. Stumm schauen | |
sie aus dem Fenster. Sie sind nervös, heute ist ihre erste Trainingsstunde. | |
Bei der dritten roten Ampel seufzt Schäfer; ihre Zeit ist knapp. „Ich muss | |
den Jungs dringend Fahrräder besorgen.“ | |
## „Zack, zack!“ in die Kabine | |
Die Kinder liegen ihr besonders am Herzen, sagt sie. „Die Erwachsenen | |
kommen irgendwie klar, aber um die Kinder muss man sich gut kümmern, sonst | |
gehen sie hier unter.“ Sie biegt in eine schmale Einfahrt ab. Bärbel | |
Schäfer hat dafür gesorgt, dass die Jungen im Fußballteam aufgenommen | |
werden. Sie dankt dem Trainer noch kurz, der schickt die Kinder „zack, | |
zack!“ in die Kabine. Dann ist sie schon wieder unterwegs. Sie will in der | |
Zwischenzeit die Eltern der Jungen zu besuchen. | |
Amar Jawed sitzt mit seiner Frau und seiner Tochter auf der zerknautschten | |
Couch im Wohnzimmer. Auf den Schränken ringsum hocken Stoffpuppen und | |
Figuren mit Gesichtern aus Porzellan. Ihre Wangen sind rosig, die Haut | |
weiß. Jawed hat kantige Züge und schwarzes Haar. Er holt ein Schreiben vom | |
Ausländeramt hervor. Er möchte sein Knie behandeln lassen, er hat | |
Schmerzen. Das Amt aber findet, sein Fall sei nicht dringlich. | |
Die Operation soll er selbst bezahlen. Aber wie soll das gehen, ohne Geld? | |
Eine Krankenversicherung wird die Familie erst erhalten, wenn ihre | |
Asylbewilligung durch ist. „Es ist schwer zu erklären, warum das so lange | |
dauert“, meint Schäfer. Sie versucht, den Flüchtlingen die Bescheide der | |
Behörden verständlich zu machen. In vielen Fällen aber kann sie die Gründe | |
selbst nicht nachvollziehen. | |
## Der Bürgermeister ist erregt | |
Grimmas Bürgermeister Matthias Berger sitzt am Ende des langen Holztisches | |
in seinem Büro. Er trägt sportliche Kleidung und spricht sehr schnell. | |
Berger regt sich auf. „Wenn ich als Staat auf die Freiwilligen | |
zurückgreife, dann heißt das: Ich bewältige es nicht allein. Die | |
Freiwilligen können ergänzend helfen, aber die können nicht ein fester | |
Baustein sein in diesem System. Da kann ich mir nur an den Kopf greifen.“ | |
Schäfer fährt nach Hause. Zeit sich auszuruhen hat sie aber nicht. Sie muss | |
für eine kranke Kollegin einspringen, die im Mehrgenerationenhaus Deutsch | |
unterrichtet. An einem Tisch am Fenster sitzen drei Mädchen, 10, 12 Jahre | |
alt. Mit Bilderkarten übt Schäfer mit ihnen Vokabeln. Auf einer Karte ist | |
ein Vogel mit einem rotem Hals zu sehen. „Rotkehlchen“, sagt sie sehr | |
deutlich. | |
Am Abend kommen im Mehrgenerationenhaus Freiwillige und Flüchtlinge | |
zusammen. Etwa siebzig Menschen sitzen an langen Tischen. Eine irakische | |
Familie spielt Karten, alte Männer trinken Çhai. Schäfer steht neben einem | |
Kurden aus Syrien. „Egal wen man hier fragt: ‚Hast du ein Problem mit dem | |
Ausländeramt?‘, wird der sagen: Ja“, sagt der Flüchtling. | |
## Es fehlt vor allem an Zuwendung | |
Eine andere Freiwillige sagt, sie habe einem Migranten neulich sogar | |
mitteilen müssen, dass sein Antrag auf Asyl abgelehnt wurde. Auch bei | |
Regina Babanz, ebenfalls Flüchtlingshelferin, hat sich viel Frust | |
angestaut: „Es fehlt an allem“, sagt sie, „es fehlt an Wohnungen, es fehlt | |
an Unterstützung vom Ausländeramt, es fehlt an Bereitschaft von den | |
Einheimischen, Kontakt zu den Flüchtlingen herstellen zu wollen.“ | |
Babanz stammt aus Norddeutschland und lebt noch nicht lange in Grimma; sie | |
ist erschüttert über die Situation vor Ort. Den Unterschied zwischen West | |
und Ost sehe sie deutlich. „Es fühlt sich keiner berufen, es fühlt sich | |
keiner berührt.“ Niemand traue sich zu sagen, wie es laufe. Dabei sei das | |
dringend nötig. „Irgendwann ist man müde, immer wieder an denselben Punkten | |
zu stehen“, sagt sie. | |
Der kurdische Syrer neben ihr kann viel davon erzählen, wie sich die | |
Defizite der Verwaltung für die Flüchtlinge selbst anfühlen: Wann immer er | |
zum Ausländeramt ging, standen Hunderte Menschen dort an; oft dauerte es | |
Stunden, bis er aufgerufen wurde. Der Syrer, der ebenfalls anonym bleiben | |
will, versuchte es trotzdem wieder und wieder. | |
Er ist ein hartnäckiger Typ, der wissen wollte, wie es nun aussieht mit | |
seinem Asylantrag. Er wollte sich nicht abwimmeln lassen. Irgendwann habe | |
ihn die Leiterin der Ausländerbehörde angeschrien: „Raus! Komm nicht jede | |
Woche wieder!“ Jetzt geht er gar nicht mehr zum Amt. Er sagt: „Ich will | |
nicht noch mal rausgeschmissen werden.“ | |
1 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Anna-Franziska Kaufmann | |
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